Page 150 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2021. Opereta med obema svetovnima vojnama ▪︎ Operetta between the Two World Wars. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 5
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opereta med obema svetovnima vojnama
ten daher auch auf ethnische und kulturelle Unterschiede aufmerksam.6
Diese Kommentare erklären die Rolle der Operette in erster Linie in Gali-
zien und der Bukowina, Regionen, die seit 150 Jahren mit Österreich und
dem Kanon der Wiener Kultur verbunden sind. So zeigt sich ein bestimm-
tes Merkmal der ukrainischen Operette im Vergleich zu ihrer Wahrneh-
mung in Russland, wo sie als reine Unterhaltung ohne tiefere ethische und
ästhetische Werte behandelt wurde, die nur die unprätentiösen Bedürf-
nisse der weniger gebildeten Öffentlichkeit befriedigen sollte. Daher hat-
te die westeuropäische Operette – ob in französischer oder österreichischer
Fassung – in Kiew, Charkiw oder Odessa keinen so großen Einfluss auf das
soziokulturelle Leben der Ukrainer und auf die Entwicklung des Musik-
theaters wie z. B. in Lemberg, Tarnopol oder Tschernowitz.
Die Situation ändert sich nach dem Ersten Weltkrieg dramatisch, als
die Ukrainer zusammen mit der sich verändernden politischen Karte Eu-
ropas und der Welt erneut zwischen mehreren Staaten aufgeteilt werden.
Die Operette als Genre hat sich den Bedürfnissen der Gesellschaft voll-
kommen angepasst und verändert ihren Status dramatisch. Da der Haupt-
gegenstand des Berichts die ukrainische Operette des 20. Jahrhunderts der
Zwischenkriegszeit ist, betrachtet man ihre Modifikation in zwei völlig un-
terschiedlichen staatlichen Systemen – dem totalitären in der UdSSR, zu
der auch die Ostukraine gehörte, und in Galizien, im neugebildeten unab-
hängigen polnischen Staat.
In der Zwischenkriegszeit erlangte die ukrainische Operette neue so-
ziokulturelle Funktionen und prägte vorherrschende gesellschaftspoli-
tische Überzeugungen. Überdies stellte sie in den eigentümlichen Formen
dieser musiktheatrischen Gattung auch die jüngsten national-historischen
Ereignisse dar. Man scheint logischerweise mit dem historischen Schicksal
der ukrainisch–sowjetischen Operette und den Umständen ihrer Entste-
hung und Funktionsweise zu beginnen. Sie war nicht von Anfang an eng
mit der Parteipolitik in der gesamten Sowjetunion verbunden. In einer Mo-
nographie, die die Geschichte der russischen und sowjetischen Operette im
20. Jahrhundert untersucht, bestätigt man den etwas merkwürdigen Stel-
lenwert dieser Gattung im allgemeinen ideologisch streng kontrollierten
System der Parteikunst:
6 Myroslawa Nowakowytsch, Галицька музика габсбурзької доби: у пошуках
української ідентичності [Die galizische Musik der Habsburger Zeit: Auf der Su-
che nach der ukrainischen Identität] (Lviv: Verleger T.Tetiuk, 2019): 204.
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ten daher auch auf ethnische und kulturelle Unterschiede aufmerksam.6
Diese Kommentare erklären die Rolle der Operette in erster Linie in Gali-
zien und der Bukowina, Regionen, die seit 150 Jahren mit Österreich und
dem Kanon der Wiener Kultur verbunden sind. So zeigt sich ein bestimm-
tes Merkmal der ukrainischen Operette im Vergleich zu ihrer Wahrneh-
mung in Russland, wo sie als reine Unterhaltung ohne tiefere ethische und
ästhetische Werte behandelt wurde, die nur die unprätentiösen Bedürf-
nisse der weniger gebildeten Öffentlichkeit befriedigen sollte. Daher hat-
te die westeuropäische Operette – ob in französischer oder österreichischer
Fassung – in Kiew, Charkiw oder Odessa keinen so großen Einfluss auf das
soziokulturelle Leben der Ukrainer und auf die Entwicklung des Musik-
theaters wie z. B. in Lemberg, Tarnopol oder Tschernowitz.
Die Situation ändert sich nach dem Ersten Weltkrieg dramatisch, als
die Ukrainer zusammen mit der sich verändernden politischen Karte Eu-
ropas und der Welt erneut zwischen mehreren Staaten aufgeteilt werden.
Die Operette als Genre hat sich den Bedürfnissen der Gesellschaft voll-
kommen angepasst und verändert ihren Status dramatisch. Da der Haupt-
gegenstand des Berichts die ukrainische Operette des 20. Jahrhunderts der
Zwischenkriegszeit ist, betrachtet man ihre Modifikation in zwei völlig un-
terschiedlichen staatlichen Systemen – dem totalitären in der UdSSR, zu
der auch die Ostukraine gehörte, und in Galizien, im neugebildeten unab-
hängigen polnischen Staat.
In der Zwischenkriegszeit erlangte die ukrainische Operette neue so-
ziokulturelle Funktionen und prägte vorherrschende gesellschaftspoli-
tische Überzeugungen. Überdies stellte sie in den eigentümlichen Formen
dieser musiktheatrischen Gattung auch die jüngsten national-historischen
Ereignisse dar. Man scheint logischerweise mit dem historischen Schicksal
der ukrainisch–sowjetischen Operette und den Umständen ihrer Entste-
hung und Funktionsweise zu beginnen. Sie war nicht von Anfang an eng
mit der Parteipolitik in der gesamten Sowjetunion verbunden. In einer Mo-
nographie, die die Geschichte der russischen und sowjetischen Operette im
20. Jahrhundert untersucht, bestätigt man den etwas merkwürdigen Stel-
lenwert dieser Gattung im allgemeinen ideologisch streng kontrollierten
System der Parteikunst:
6 Myroslawa Nowakowytsch, Галицька музика габсбурзької доби: у пошуках
української ідентичності [Die galizische Musik der Habsburger Zeit: Auf der Su-
che nach der ukrainischen Identität] (Lviv: Verleger T.Tetiuk, 2019): 204.
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