Page 62 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2023. Glasbena društva v dolgem 19. stoletju: med ljubiteljsko in profesionalno kulturo ▪︎ Music societies in the long 19th century: Between amateur and professional culture. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 6
P. 62
glasbena društva v dolgem 19. stoletju: med ljubiteljsko in profesionalno kulturo
ein weiterer Schritt meiner Überlegungen, die ich – und dies hat mich doch
überrascht – auch an den Verbandszeitungen der Männerchöre glaube ab-
lesen zu können.
Als Speerspitze der bürgerlichen Emanzipationsbewegung (zusam-
men mit Turnern und Schützen) waren die Männerchöre der Vorstellung
eines Nationalstaats verhaftet, der sich gegen die alte ständische Ordnung
mit ihren geburtsabhängigen Schranken richtete und die Idee eines ho-
mogenen, einigen Nationalstaats vertrat. Standesbedingte Konflikte soll-
ten vermieden werden und nur die Leistung des Einzelnen für seine Stel-
lung in der Gesellschaft den Ausschlag geben. Programmatisch für diese
Einstellung setzte der Leipziger Bankier Hans Kroch 1928 auf die Front sei-
nes Neubaus am Augustusplatz den Spruch „Omnia vincit labor“, der bür-
gerliche Gegenentwurf zum alten, fürstlichen „Omnia vincit amor“ (bei-
des nach Ovid), das in der Oper beständig gefeiert worden war. Einheit,
Freiheit und Brüderlichkeit waren die andauernd beschworenen Ideale der
Vereine. Konfessionelle Differenzen wurden bereits im Vormärz aktiv der
Nationalidentität nachgeordnet,2 was auch die jüdischen Teilnehmer betraf.
Spätestens mit der Entstehung der Arbeitersänger brach aber die Standes-
frage wieder auf, was Richard Kötzschke 1927 bitter beklagte:
möchte doch der der politische Parteienstreit wenigstens in dem
geweihten Tempel der Tonkunst schweigen! Was sollen denn jene
Ausfälle gegen die ‚spießbürgerlichen Klimbimvereine‘? Den Ar
beitersängern wird damit gar nichts genützt, und den bürgerlichen
Vereinen wird nichts geschadet. Wohl aber wird dadurch der Ein
heit der Volksgemeinschaft, die uns so notwendig, untergraben.3
Dietmar Klenke hat die Zuordnung der Männerchöre zu dem wei-
ten weltanschaulichen Spektrum des 19. Jahrhunderts in bemerkenswerter
Klarheit herausgearbeitet.4 Als ursprünglich weltliche Institution war das
Männerchorwesen zwar unabhängig von den Kirchen entstanden, sah sich
jedoch mit seinem Ideal nationaler Einheit in einer noch stark religiös ge-
2 Friedhelm Brusniak, „Männerchorwesen und Konfession von 1800 bis in den Vor-
märz“, in „Heil deutschem Wort und Sang!“ Nationalidentität und Gesangskultur in
der deutschen Geschichte. Tagungsbericht 1994, Hrsg. Friedhelm Brusniak und Diet-
mar Klenke (Augsburg: Wissner, 1995), 123–40.
3 Richard Kötzschke, Geschichte des deutschen Männergesangs (Dresden: Wilhelm
Limpert Verlag, 1927), 222.
4 Dietmar Klenke, Der singende „deutsche Mann“. Gesangvereine und deutsches Nati
onalbewusstsein von Napoleon bis Hitler (Münster [u. a.]: Waxmann, 1998).
60
ein weiterer Schritt meiner Überlegungen, die ich – und dies hat mich doch
überrascht – auch an den Verbandszeitungen der Männerchöre glaube ab-
lesen zu können.
Als Speerspitze der bürgerlichen Emanzipationsbewegung (zusam-
men mit Turnern und Schützen) waren die Männerchöre der Vorstellung
eines Nationalstaats verhaftet, der sich gegen die alte ständische Ordnung
mit ihren geburtsabhängigen Schranken richtete und die Idee eines ho-
mogenen, einigen Nationalstaats vertrat. Standesbedingte Konflikte soll-
ten vermieden werden und nur die Leistung des Einzelnen für seine Stel-
lung in der Gesellschaft den Ausschlag geben. Programmatisch für diese
Einstellung setzte der Leipziger Bankier Hans Kroch 1928 auf die Front sei-
nes Neubaus am Augustusplatz den Spruch „Omnia vincit labor“, der bür-
gerliche Gegenentwurf zum alten, fürstlichen „Omnia vincit amor“ (bei-
des nach Ovid), das in der Oper beständig gefeiert worden war. Einheit,
Freiheit und Brüderlichkeit waren die andauernd beschworenen Ideale der
Vereine. Konfessionelle Differenzen wurden bereits im Vormärz aktiv der
Nationalidentität nachgeordnet,2 was auch die jüdischen Teilnehmer betraf.
Spätestens mit der Entstehung der Arbeitersänger brach aber die Standes-
frage wieder auf, was Richard Kötzschke 1927 bitter beklagte:
möchte doch der der politische Parteienstreit wenigstens in dem
geweihten Tempel der Tonkunst schweigen! Was sollen denn jene
Ausfälle gegen die ‚spießbürgerlichen Klimbimvereine‘? Den Ar
beitersängern wird damit gar nichts genützt, und den bürgerlichen
Vereinen wird nichts geschadet. Wohl aber wird dadurch der Ein
heit der Volksgemeinschaft, die uns so notwendig, untergraben.3
Dietmar Klenke hat die Zuordnung der Männerchöre zu dem wei-
ten weltanschaulichen Spektrum des 19. Jahrhunderts in bemerkenswerter
Klarheit herausgearbeitet.4 Als ursprünglich weltliche Institution war das
Männerchorwesen zwar unabhängig von den Kirchen entstanden, sah sich
jedoch mit seinem Ideal nationaler Einheit in einer noch stark religiös ge-
2 Friedhelm Brusniak, „Männerchorwesen und Konfession von 1800 bis in den Vor-
märz“, in „Heil deutschem Wort und Sang!“ Nationalidentität und Gesangskultur in
der deutschen Geschichte. Tagungsbericht 1994, Hrsg. Friedhelm Brusniak und Diet-
mar Klenke (Augsburg: Wissner, 1995), 123–40.
3 Richard Kötzschke, Geschichte des deutschen Männergesangs (Dresden: Wilhelm
Limpert Verlag, 1927), 222.
4 Dietmar Klenke, Der singende „deutsche Mann“. Gesangvereine und deutsches Nati
onalbewusstsein von Napoleon bis Hitler (Münster [u. a.]: Waxmann, 1998).
60