Page 65 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2023. Glasbena društva v dolgem 19. stoletju: med ljubiteljsko in profesionalno kulturo ▪︎ Music societies in the long 19th century: Between amateur and professional culture. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 6
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zur kulturellen und politischen bedeutung der deutschen männergesangvereine
werden in der Zeitung auch verschiedene Arten des Einstudierens in den
Gesangvereinen erläutert.
Weiht sich aber der Männergesang, wie das sehr rühmlich heut
auch vorkommt, einmal dem Dienste Gottes in seinem Tempel, so
hält man wohl auch die Proben in der Kirche und bedient sich des
mächtigsten aller Hülfsmittel, der Orgel. Welcher Sänger sollte eine
Melodie nicht begreifen, wenn sie ihm vermöge einer scharfen 3fa
chen Mixtur – in die Ohren dröhnt.13
Es ist wohl nicht falsch, in der Bezeichnung einer Kirche als „Tem-
pel“ ein Element der Profanierung zu erkennen, wie überhaupt die gesam-
te Diktion spöttisch auf die Situation herabzublicken scheint. Ähnlich wird
der Terminus „Gott“ begrifflich aufgeweicht und säkularisiert, so dass er in
Männergesangswerken und als Motto geradezu beliebig zu verwenden ist,
wie etwa im Motto der Deutschen Männer-Gesangs-Zeitung, das in jedem
Heft auf der Titelseite prangt: „Herz und Lied frisch, frei, gesund, / Wahr’
dir’ Gott, du Sängerbund!“ Diese Form einer Entchristlichung wird immer
wieder mit historischen Beiträgen begründet, in denen der Fortschritt der
modernen Gesellschaft betont wird. So betont ein Dr. Schwarz in der Deut
schen Männer-Gesangs-Zeitung 1864 ganz im Sinne fortschrittlicher Wis-
senschaftsgläubigkeit: „Selbst mancher Jahrtausende alte Glaube mußte sich
zurückziehen vor dem zweischneidigen Schwert der Wissenschaft“. Wissen-
schaftlich meint er die Frage beantworten zu können: „woher kommt nun
aber dieser über die ganze Welt verbreitete Glaube von der alles hinter sich
lassenden Vortrefflichkeit italienischen Gesanges?“ Nun sei der Kirchenge-
sang von Rom aus durch seine Vertreter als Muster in alle Länder verbrei-
tet worden.
Dies aber ist Niemand anders, als die Kirche selbst und ihre Die
ner, die Nichts neben sich als gut gelten ließ, auch keinen andern
Gesang, als den ihrer eigenen Mutterkirche zu Rom. Mit dem un
fehlbaren katholischen Glauben wird so auch der unfehlbare italie
nische Gesangsglaube verbreitet. – Unfehlbar? Welch ein Wahn! –14
Die Männergesangvereine dagegen seien „eine rein deutsche Einrich
tung“, und die Deutschen seien „damit allen Nationen vorangegangen; nicht
13 R. C., „Ob Geige, ob Klavier oder keins von beiden“, Deutsche Männer-Gesangs-Zei
tung 4, Nr. 1 (1863): 11.
14 Anon., „Vortrag des Herrn Dr. Schwarz“, Deutsche Männer-Gesangs-Zeitung 5, Nr. 1
(1864): 2.
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werden in der Zeitung auch verschiedene Arten des Einstudierens in den
Gesangvereinen erläutert.
Weiht sich aber der Männergesang, wie das sehr rühmlich heut
auch vorkommt, einmal dem Dienste Gottes in seinem Tempel, so
hält man wohl auch die Proben in der Kirche und bedient sich des
mächtigsten aller Hülfsmittel, der Orgel. Welcher Sänger sollte eine
Melodie nicht begreifen, wenn sie ihm vermöge einer scharfen 3fa
chen Mixtur – in die Ohren dröhnt.13
Es ist wohl nicht falsch, in der Bezeichnung einer Kirche als „Tem-
pel“ ein Element der Profanierung zu erkennen, wie überhaupt die gesam-
te Diktion spöttisch auf die Situation herabzublicken scheint. Ähnlich wird
der Terminus „Gott“ begrifflich aufgeweicht und säkularisiert, so dass er in
Männergesangswerken und als Motto geradezu beliebig zu verwenden ist,
wie etwa im Motto der Deutschen Männer-Gesangs-Zeitung, das in jedem
Heft auf der Titelseite prangt: „Herz und Lied frisch, frei, gesund, / Wahr’
dir’ Gott, du Sängerbund!“ Diese Form einer Entchristlichung wird immer
wieder mit historischen Beiträgen begründet, in denen der Fortschritt der
modernen Gesellschaft betont wird. So betont ein Dr. Schwarz in der Deut
schen Männer-Gesangs-Zeitung 1864 ganz im Sinne fortschrittlicher Wis-
senschaftsgläubigkeit: „Selbst mancher Jahrtausende alte Glaube mußte sich
zurückziehen vor dem zweischneidigen Schwert der Wissenschaft“. Wissen-
schaftlich meint er die Frage beantworten zu können: „woher kommt nun
aber dieser über die ganze Welt verbreitete Glaube von der alles hinter sich
lassenden Vortrefflichkeit italienischen Gesanges?“ Nun sei der Kirchenge-
sang von Rom aus durch seine Vertreter als Muster in alle Länder verbrei-
tet worden.
Dies aber ist Niemand anders, als die Kirche selbst und ihre Die
ner, die Nichts neben sich als gut gelten ließ, auch keinen andern
Gesang, als den ihrer eigenen Mutterkirche zu Rom. Mit dem un
fehlbaren katholischen Glauben wird so auch der unfehlbare italie
nische Gesangsglaube verbreitet. – Unfehlbar? Welch ein Wahn! –14
Die Männergesangvereine dagegen seien „eine rein deutsche Einrich
tung“, und die Deutschen seien „damit allen Nationen vorangegangen; nicht
13 R. C., „Ob Geige, ob Klavier oder keins von beiden“, Deutsche Männer-Gesangs-Zei
tung 4, Nr. 1 (1863): 11.
14 Anon., „Vortrag des Herrn Dr. Schwarz“, Deutsche Männer-Gesangs-Zeitung 5, Nr. 1
(1864): 2.
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