Page 39 - Weiss, Jernej, ur. 2017. Glasbene migracije: stičišče evropske glasbene raznolikosti - Musical Migrations: Crossroads of European Musical Diversity. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 1
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die stilistische vielfalt von orlando di lassos weltlichem schaffen ...
ge widerspiegelt. Und dementsprechend befolgt Lasso auch fast sämtliche
Vorschriften bzw. Usancen für diesen Modus:5 Sopran und Tenor verwen-
den den erlaubten Ambitus – der „Canto“ die maximale Variante von c1 bis
e2 (die hypomixolydische Oktav ist bekanntlich d1 bis d2, und je ein Ton
Über- und Unterschreitung ist erlaubt), der wahrscheinlich von einem Ka-
straten auszuführende Tenor etwas weniger, nämlich c1 bis c2. Und der Baß
erfüllt genau die mixolydische Oktav: g bis g1. Auch die Kadenzen sind
schulgemäß postiert: mit zwei Ausnahmen nur auf der Finalis g, dem mo-
dus-eigenen plagalen Tenor c und dem authentischen Parallel-Tenor d. Die-
se zwei Ausnahmen zeigen uns aber, daß Lasso hier trotz aller Derbheit des
Sujets genau jene Kunstgriffe anwendet, die er auch seiner geistlichen Mu-
sik angedeihen läßt: Denn die zwei für Negatives stehenden „clausulae pe-
regrinae“, die zum Ton „a“ führen, gelten den Worten „chissa billanazza“
sowie „bizzaria“. Und auch die „Quasi-Kadenz“ für den armen Giorgio bei
„sportunata“ scheint zunächst ins „a“ leiten zu wollen, ehe sie dann doch
zum „g“ führt (über eine „cadenza fuggita“, die wir „Trugschluß“ nennen,
die aber bis ins 19. Jahrhunderts hinein noch „inganno“, also Täuschung,
hieß6). – Daß wichtige Worte synkopisch hervorgehoben werden, ist eben-
falls beste „Kunstmusik-Tradition“, angesichts der oft nachfolgenden paral-
lelen Dreiklänge aber noch auffallender, und selbstverständlich erfährt die
einzige als solche ausgewiesene Frage, „come gatta chiama me?“, eine auf-
wärtssteigende Melodieführung als „interrogatio“7.
lehre Heinrich Schützens, hrsg. von Joseph Müller-Blattau (Kassel etc., 2. Auflage:
Bärenreiter, 1963), S. 96.
5 Zu diesen Usancen siehe Bernhard Meier, Die Tonarten der klassischen Vokalpoly-
phonie (Utrecht: Oosthoek, Scheltema & Holkema, 1974), sowie Bernhard Meier,
Alte Tonarten. Dargestellt an der Instrumentalmusik des 16. und 17. Jahrhunderts
(Kassel etc.: Bärenreiter, 1992).
6 Vgl. Heinrich Christoph Koch, Musikalisches Lexikon (Frankfurt am Main: August
Hermann d. J., 1802), Sp. 778f. Zum semantischen Feld des Trugschlusses siehe Hart-
mut Krones, „Rhetorik und rhetorische Symbolik um 1800. Vom Weiterleben eines
Prinzips“, in Musiktheorie, 3 (1988): 117–140, hier S. 129, sowie Richard Böhm, Sym-
bolik und Rhetorik im Liedschaffen von Franz Schubert (= Wiener Schriften zur Stil-
kunde und Aufführungspraxis, hrsg. von Hartmut Krones, Band 3), (Wien: Boehlau,
2006), S. 133–147.
7 Zu den musikalisch-rhetorischen Figuren und ihren Bedeutungsfeldern siehe vor
allem Hartmut Krones/Robert Schollum, Vokale und allgemeine Aufführungspraxis
(Wien-Köln: Boehlau, 1983), hier S. 37–63; Dietrich Bartel, Handbuch der musika-
lischen Figurenlehre (Laaber: Laaber, 1985, 5. Aufl., 2007); Hartmut Krones, „Musik
und Rhetorik“, in Die Musik in Geschichte und Gegenwart [MGG], zweite, neube-
arbeitete Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher. Sachteil 6 (Kassel etc.: Bärenreiter,
1997), Sp. 814–852, insbes. Sp. 826–832; sowie Hartmut Krones, „Musikalische Fi-
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ge widerspiegelt. Und dementsprechend befolgt Lasso auch fast sämtliche
Vorschriften bzw. Usancen für diesen Modus:5 Sopran und Tenor verwen-
den den erlaubten Ambitus – der „Canto“ die maximale Variante von c1 bis
e2 (die hypomixolydische Oktav ist bekanntlich d1 bis d2, und je ein Ton
Über- und Unterschreitung ist erlaubt), der wahrscheinlich von einem Ka-
straten auszuführende Tenor etwas weniger, nämlich c1 bis c2. Und der Baß
erfüllt genau die mixolydische Oktav: g bis g1. Auch die Kadenzen sind
schulgemäß postiert: mit zwei Ausnahmen nur auf der Finalis g, dem mo-
dus-eigenen plagalen Tenor c und dem authentischen Parallel-Tenor d. Die-
se zwei Ausnahmen zeigen uns aber, daß Lasso hier trotz aller Derbheit des
Sujets genau jene Kunstgriffe anwendet, die er auch seiner geistlichen Mu-
sik angedeihen läßt: Denn die zwei für Negatives stehenden „clausulae pe-
regrinae“, die zum Ton „a“ führen, gelten den Worten „chissa billanazza“
sowie „bizzaria“. Und auch die „Quasi-Kadenz“ für den armen Giorgio bei
„sportunata“ scheint zunächst ins „a“ leiten zu wollen, ehe sie dann doch
zum „g“ führt (über eine „cadenza fuggita“, die wir „Trugschluß“ nennen,
die aber bis ins 19. Jahrhunderts hinein noch „inganno“, also Täuschung,
hieß6). – Daß wichtige Worte synkopisch hervorgehoben werden, ist eben-
falls beste „Kunstmusik-Tradition“, angesichts der oft nachfolgenden paral-
lelen Dreiklänge aber noch auffallender, und selbstverständlich erfährt die
einzige als solche ausgewiesene Frage, „come gatta chiama me?“, eine auf-
wärtssteigende Melodieführung als „interrogatio“7.
lehre Heinrich Schützens, hrsg. von Joseph Müller-Blattau (Kassel etc., 2. Auflage:
Bärenreiter, 1963), S. 96.
5 Zu diesen Usancen siehe Bernhard Meier, Die Tonarten der klassischen Vokalpoly-
phonie (Utrecht: Oosthoek, Scheltema & Holkema, 1974), sowie Bernhard Meier,
Alte Tonarten. Dargestellt an der Instrumentalmusik des 16. und 17. Jahrhunderts
(Kassel etc.: Bärenreiter, 1992).
6 Vgl. Heinrich Christoph Koch, Musikalisches Lexikon (Frankfurt am Main: August
Hermann d. J., 1802), Sp. 778f. Zum semantischen Feld des Trugschlusses siehe Hart-
mut Krones, „Rhetorik und rhetorische Symbolik um 1800. Vom Weiterleben eines
Prinzips“, in Musiktheorie, 3 (1988): 117–140, hier S. 129, sowie Richard Böhm, Sym-
bolik und Rhetorik im Liedschaffen von Franz Schubert (= Wiener Schriften zur Stil-
kunde und Aufführungspraxis, hrsg. von Hartmut Krones, Band 3), (Wien: Boehlau,
2006), S. 133–147.
7 Zu den musikalisch-rhetorischen Figuren und ihren Bedeutungsfeldern siehe vor
allem Hartmut Krones/Robert Schollum, Vokale und allgemeine Aufführungspraxis
(Wien-Köln: Boehlau, 1983), hier S. 37–63; Dietrich Bartel, Handbuch der musika-
lischen Figurenlehre (Laaber: Laaber, 1985, 5. Aufl., 2007); Hartmut Krones, „Musik
und Rhetorik“, in Die Musik in Geschichte und Gegenwart [MGG], zweite, neube-
arbeitete Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher. Sachteil 6 (Kassel etc.: Bärenreiter,
1997), Sp. 814–852, insbes. Sp. 826–832; sowie Hartmut Krones, „Musikalische Fi-
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