Page 163 - Weiss, Jernej, ur. 2019. Vloga nacionalnih opernih gledališč v 20. in 21. stoletju - The Role of National Opera Houses in the 20th and 21st Centuries. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 3
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das mariinski-theater – zwischen vergangenheit und zukunft – das 21. jahrhundert

dina, Larissa Djadkowa, Wladimir Galusin, Sergej Aleksaschkin, die Balle-
rinen Diana Wischnjowa, Uljana Lopatkina u.a.).

Durch die riesigen physischen und psychischen Belastungen, denen
das Kollektiv des Mariinski-Theaters ausgesetzt ist, konnte Valeri Gergijew
in 30 Jahren Leitung eine gute Lenkbarkeit des Kollektives und zweifellos
ein hohes musikalisches Niveau der meisten Stücke erreichen. Das bedeutet
natürlich nicht, dass es im Theater keine Probleme gibt. Es gibt sie.

Erstens ist es das Fehlen einer nötigen Konkurrenz auf dem Gebiet der
Regie. Die zwei angestellten Regisseure (Irkin Gabitow und Alexej Stepan-
juk) sind dem wachsenden Schwall neuer Stücke nicht gewachsen. So müs-
sen Regisseure von außen engagiert werden, zuweilen ohne besondere Aus-
wahl, was zu ernsthaften „Schwierigkeiten“ führt (weswegen seinerzeit die
Vorbereitung des „Ringes der Nibelungen“ von Wagner gestoppt wurde).
Paradox, aber Fakt: Valeri Gergijew ist gegenüber Regieanweisungen ziem-
lich indifferent. Da er sehr kleinlich in Bezug auf die Qualität der musika-
lischen Umsetzung ist, genehmigt er jede beliebige Regievariante, wenn sie
die Künstler nicht behindert.

Zweitens gibt es in der Truppe schon jahrelang keinen Chefchoreo-
graphen – erstmalig während der gesamten Existenz des Theaters. Das Bal-
lett hält sich ausschließlich dank der äußerst hohen Qualifikation der Pä-
dagogen und Repetitoren, die ehemalige Solisten der Truppe sind. Aber bei
neuen Stücken entstehen ernsthafte Probleme, wie das vor kurzem bei dem
ausgezeichneten Ballett von Tischtschenko „Jaroslawna“ geschah, das fak-
tisch durch eine prätentiös unprofessionelle Regie zunichtegemacht wurde.

Drittens erzeugt die übermäßige Belastung der Orchestermitglieder
eine sogenannte Kaderfluktuation. Aus dem Kollektiv wird sein dyna-
mischster Teil „herausgewaschen“, da die Künstler in andere Kollektive
wechseln, in erster Linie in die Orchester der Petersburger Philharmonie,
wo der Lohn höher und die Belastung bedeutend geringer ist.

Letztendlich viertens – das ist die wesentlichste Kritik – entstehen bei
all dem riesigen Arbeitsumfang unter den Bedingungen der strengen „Lei-
tungsvertikale“ unvermeidlich Situationen, die ein Leiter allein operativ
nicht lösen kann. Und ohne die Genehmigung von Valeri Gergijew über-
nimmt keiner die Verantwortung. Mitunter muss man auf die Klärung von
nicht allzu komplizierten Fragen monatelang warten.

Es ist schwierig, unter ständigem Stress zu existieren, aber das ist die
Realität des heutigen Lebens des Mariinski-Theaters, bei all seinem Ruhm
und Glanz.

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