Page 74 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2023. Glasbena društva v dolgem 19. stoletju: med ljubiteljsko in profesionalno kulturo ▪︎ Music societies in the long 19th century: Between amateur and professional culture. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 6
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glasbena društva v dolgem 19. stoletju: med ljubiteljsko in profesionalno kulturo

missen konnte und die künstlich erzogenen Falsettisten sich immer
weniger geeignet erwiesen, die Frauenstimmen zu vertreten, wur­
de ihr fürchterlicher Ersatz durch die sogenannten Kastraten fast
zur Notwendigkeit. Man verhinderte durch gewaltsame Operati­
onen die Entwickelung des Knaben zum Jüngling und Mann, um
diesem die Knabenstimme für die Zeit seines Lebens zu erhalten.27

Dass demgegenüber die Männerchorbewegung selbst evolutionär wei-
terentwickelt und darum mit ihrem Kultus als führend anzusehen sei,
schlägt immer wieder durch:

Der Zuhörerraum muß im stimmungsvollen Halbdunkel sein. Das
Konzertpodium aber bedarf eine vollständigen Neugestaltung.
Vom Altar reicht man die mystische Emotion, die geistig höher ent­
wickelte ästhetische aber geschieht vom Podium aus. Von diesem
also wird ein weihevoller Eindruck verlangt.28

Zu einer militanten Ablehnung christlicher Traditionen kam es dann
erst nach dem Ersten Weltkrieg. Der „Verein zur Herausgabe des Deut-
schen Sängerkalenders in Wien“ setzte in seiner Publikation 1929 folgen-
des Statement:

Unsere christlichen Zeitweiser oder, wie man mit einem Fremd­
worte zu sagen pflegt, Kalender haben sich zu ihrer heutigen Ge­
stalt allmählich aus dem im alten Rom gebrauchten Kalender ent­
wickelt. Dem ist es zuzuschreiben, daß sie viel uns Fremdes besser
erhielten, ja einbürgerten, als die heimischen deutschen und, wei­
ter zurückgehend, die arischen Anschauungen und Einrichtungen,
die nur da und dort unter dem neuen Gewande sichtbar werden.
Auch hier hat die römische Kirche das ihre beigetragen, deutsche
Auffassung auszumerzen oder doch, wo es nicht ging, sie in ihrem
Sinne umzudeuten.29

Die Hoffnung, eine homogene nationale Gesellschaft nach den Ide-
alen der Einheit, Freiheit und Brüderlichkeit mithilfe des Wundermittels
der Musik, speziell dem Männergesang verwirklichen zu können, erwies
sich spätestens mit der Reichsgründung als illusionär. Soziale Differenzen

27 August Reißmann, „Die Frauen und die Musik“, Die Sängerhalle 32 (1892): 14.
28 Karl Metz, „Das deutsche Kunstlied. Musikästhetische Betrachtung“, Die Sängerhal­

le 39 (1899): 598.
29 Heinrich Damisch [Wien] und Franz Josef Ewens [Berlin], Hrsg., Deutscher Sänger-

Kalender 1929, 4. Jahrgang (Wien: Damisch, 1929), 6.

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