Page 73 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2023. Glasbena društva v dolgem 19. stoletju: med ljubiteljsko in profesionalno kulturo ▪︎ Music societies in the long 19th century: Between amateur and professional culture. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 6
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zur kulturellen und politischen bedeutung der deutschen männergesangvereine

sste er sich doch von einem oppositionellen Kampfbund in eine staatstra-
gende Institution wandeln.

Die nationalreligiöse Funktion blieb eine tragende Stütze der Bewe-
gung. Die Sängerhalle. Allgemeine Deutsche Gesangvereinszeitung für das
In- und Ausland feiert den bekannten Thüringer Dichter Ludwig Storch
und zitiert seine Worte, um Bedeutung und Aufgabe der deutschen Sänger-
bünde zu umreißen: „Es wird aus diesem Sängerbunde ein Gottesdienst am
Altare des Vaterlandes hervorgehen.“24 Vorbild sind hier nicht die Germa-
nen, sondern die „alten Griechen“.25 Wie beliebig die Begründung ihrer ho-
hen Bedeutsamkeit immer wieder zusammengesetzt wird, zeigt die natio-
nalromantische Begründung mit der deutschen Seele:

Das bloße Amüsement am Gesange bei einem Glase Bier – was ja
immer noch vielen anderen Vergnügungen vorzuziehen ist – wird
dann gar bald einem ernsten Studium und edlen Wetteifer wei­
chen, so daß der Volksgesang in Thüringen das wieder wird, was er
immer hätte bleiben sollen: die Seele des Volkes. – Reichen wir uns
also hierzu brüderlich die Hand!26

Dabei werden auch die Kirchen nicht vergessen, denen auch hier regel-
mäßig eine kleine Rubrik „Kirchenmusiken“ eingeräumt wird, allerdings
in unterschiedlicher Gewichtung. In einem erstaunlichen Plädoyer für dem
Wert des Frauengesangs schreibt August Reißmann 1892:

Die protestantische Kirche hat auch wohl niemals an der Mitwir­
kung der Frauen im Kirchengesang Anstoß genommen, während
sich die katholische Kirche bei kirchlichen Kultusgesängen hartnä­
ckig Jahrhunderte lang dagegen sich sträubte, und nur nach schwe­
ren Kämpfen sie in beschränktem Maße im Gemeindegesang zu­
ließ. Weil sie aber nach der pomphaft wirksamen Ausbildung des
mehr- und vielstimmigen Gesanges doch die hohen Stimmen nicht

24 Prof. A. Voigt-Gotha, „Bedeutung und Aufgabe der deutschen Sängerbünde in Ver-
gangenheit und Gegenwart“, Die Sängerhalle. Allgemeine Deutsche Gesangvereins­
zeitung für das In- und Ausland. Zugleich auch Organ für die Veröffentlichungen des
Deutschen Sängerbundes 30 (1890): 495.

25 Ibid., 496.
26 Carl Müllerhartung, „Ein Nachwort zur Bedeutung und Aufgabe der deutschen Sän-

gerbünde in Vergangenheit und Gegenwart. Zuschrift von Hofrat Müller-Hartung
in Weimar: Zum Wettsingen“, Die Sängerhalle 31 (1891): 190f., hier 191. Zu Gesangs-
wettbewerben siehe neuerdings: Christoph Müller-Oberhäuser, Chorwettbewerbe in
Deutschland zwischen 1841 und 1914. Traditionen – Praktiken – Wertdiskurse (Stutt-
gart: Franz Steiner, 2022).

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