Page 89 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2024. Glasbena kritika – nekoč in danes ▪︎ Music Criticism – Yesterday and Today. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 7
P. 89
doi: https://doi.org/10.26493/978-961-293-299-2.89-102
Künstlerische vs. politische Aspekte
von Musikkritik: Zur Rezeption „ausländischer“
Orchestermusik in der Leipziger Musikpresse
des 19. Jahrhunderts
Stefan Keym
Univerza v Leipzigu
Universität Leipzig
Das 19. Jahrhundert gilt als eine Epoche des wachsenden Nationalismus’,
in der sich diese politische Ideologie zunehmend in allen Lebensbereichen
manifestiert hat. Gerade der kulturell-künstlerische Bereich wurde als ein
Forum entdeckt, auf dem man nationale Emanzipations- und Hegemonial
bestrebungen besonders wirkungsvoll zur Geltung bringen konnte. Bei den
großen Instrumentalmusikgattungen, die zur selben Zeit ebenfalls einen
nie dagewesenen Boom erlebten, stand einer solchen Funktionalisierung
allerdings – vor allem im deutschsprachigen Raum – die sogenannte „Idee
der absoluten Musik“ entgegen, die die „reine Instrumentalmusik“ in den
Worten von E. T. A. Hoffmann zu einem „Geisterreich“ verklärte, das ni-
chts gemein habe „mit der äussern Sinnenwelt“ und ihren menschlichen
Konflikten.1 Der Versuch, beide Ideologien miteinander in Einklang zu
bringen, führte zu einer seltsam gewundenen, ambivalenten Argumenta-
tion, wie sie etwa August Reißmann, selbst Symphonie-Komponist, Mu-
siktheoretiker und -schriftsteller, 1873 im Artikel „Deutschland. Deutsche
Musik“ des von ihm mitherausgegebenen Musikalischen Conversationslexi-
kons vertrat:
1 Anon. [E. T. A. Hoffmann], „Rezension von Beethovens fünfter Symphonie“, Allge-
meine musikalische Zeitung [AmZ] 12 (4. Juli 1810): 631. Siehe auch: Carl Dahlhaus,
Die Idee der absoluten Musik (Kassel/München: Bärenreiter/dtv, 1978).
89
Künstlerische vs. politische Aspekte
von Musikkritik: Zur Rezeption „ausländischer“
Orchestermusik in der Leipziger Musikpresse
des 19. Jahrhunderts
Stefan Keym
Univerza v Leipzigu
Universität Leipzig
Das 19. Jahrhundert gilt als eine Epoche des wachsenden Nationalismus’,
in der sich diese politische Ideologie zunehmend in allen Lebensbereichen
manifestiert hat. Gerade der kulturell-künstlerische Bereich wurde als ein
Forum entdeckt, auf dem man nationale Emanzipations- und Hegemonial
bestrebungen besonders wirkungsvoll zur Geltung bringen konnte. Bei den
großen Instrumentalmusikgattungen, die zur selben Zeit ebenfalls einen
nie dagewesenen Boom erlebten, stand einer solchen Funktionalisierung
allerdings – vor allem im deutschsprachigen Raum – die sogenannte „Idee
der absoluten Musik“ entgegen, die die „reine Instrumentalmusik“ in den
Worten von E. T. A. Hoffmann zu einem „Geisterreich“ verklärte, das ni-
chts gemein habe „mit der äussern Sinnenwelt“ und ihren menschlichen
Konflikten.1 Der Versuch, beide Ideologien miteinander in Einklang zu
bringen, führte zu einer seltsam gewundenen, ambivalenten Argumenta-
tion, wie sie etwa August Reißmann, selbst Symphonie-Komponist, Mu-
siktheoretiker und -schriftsteller, 1873 im Artikel „Deutschland. Deutsche
Musik“ des von ihm mitherausgegebenen Musikalischen Conversationslexi-
kons vertrat:
1 Anon. [E. T. A. Hoffmann], „Rezension von Beethovens fünfter Symphonie“, Allge-
meine musikalische Zeitung [AmZ] 12 (4. Juli 1810): 631. Siehe auch: Carl Dahlhaus,
Die Idee der absoluten Musik (Kassel/München: Bärenreiter/dtv, 1978).
89