Page 90 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2024. Glasbena kritika – nekoč in danes ▪︎ Music Criticism – Yesterday and Today. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 7
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glasbena kritika – nekoč in danes | music criticism – yesterday and today

Nur weil unsere deutschen Meister die Kunst als Selbstzweck betrach-
ten und üben und nicht einseitig dem nationalen Bedürfnis der Massen
unterordnen, gewinnt diese höchste Vollendung.2
Damit machte Reißmann das Prinzip der absoluten Musik zur Grund-
lage deutscher kulturchauvinistischer Überlegenheitsphantasien. D­ iese
scheinbare Lösung des Widerspruchs zwischen Politisierung und „l’art
pour l’art“-Prinzip war indes keineswegs unumstritten. Vielmehr wurde
das Kräfteverhältnis dieser beiden Pole im deutschen Musikdiskurs des
‚langen‘ 19. Jahrhunderts immer wieder neu diskutiert. Neben der patri-
otischen Verklärung von künstlerischen Leistungen einheimischer Kom-
ponisten ging es dabei zunehmend auch um die kritische Beurteilung von
Beiträgen ‚ausländischer‘ Tonsetzer zu den großen Instrumentalgattungen,
deren internationale Vorbildwirkung man zwar begrüßte, ohne jedoch von
ihrer Vereinnahmung als deutsches Alleinstellungsmerkmal Abstriche ma-
chen zu wollen.
Im Folgenden wird diese Entwicklung anhand der Leipziger Musik-
presse skizziert. Dabei greife ich zurück auf Ergebnisse eines an der Uni-
versität Leipzig durchgeführten DFG-Forschungsprojekts, das sich der Re-
Internationalisierung des Symphonik-Repertoires der Leipziger Konzerte
und Verlage sowie dessen Resonanz in der Presse widmete.3
Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Kanonisierung der großen
Instrumentalwerke von Joseph Haydn, Wolfgang Amadé Mozart und vor
allem Ludwig van Beethoven zu Klassikern der Tonkunst in den Jahren
nach 1800 zusammenfiel mit dem Zerfall des Heiligen Römischen Reichs
Deutscher Nation und mit dessen militärischer Bedrohung durch das post-
revolutionäre Frankreich unter Napoleon Bonaparte. In dieser prekären Si-
tuation, in die man sich heute vielleicht wieder etwas leichter hineinzu-
versetzen vermag als in den vergangenen Jahrzehnten, diente Kunst als
ein Mittel der Kompensation: An die Stelle des fehlenden Nationalstaats
trat die Idee einer Kulturnation (Friedrich Meinecke) und diese benötig-
2 August Reissmann, „Deutschland. Deutsche Musik“, in Musikalisches Conversati-
ons-Lexikon, Bd. 3, Hrsg. August Reissmann und Hermann Mendel (Berlin: Oppen-
heim, 1873), 138f.
3 Leipzig und die Internationalisierung der Symphonik. Untersuchungen zu Präsenz
und Rezeption ‚ausländischer‘ Orchesterwerke im Leipziger Musikleben 1835–1914;
DFG-Projekt am Institut für Musikwissenschaft der Universität Leipzig 2011–2015.
Siehe dazu: Stefan Keym, „‚Sich mit jedem Tact mehr zu verwundern, und doch
mehr zu Haus zu fühlen.‘ Zur Re-Internationalisierung der Symphonik im Leipziger
Konzertrepertoire des langen 19. Jahrhunderts“, Die Musikforschung 69 (2016): 318–
44.

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