Page 92 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2024. Glasbena kritika – nekoč in danes ▪︎ Music Criticism – Yesterday and Today. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 7
P. 92
glasbena kritika – nekoč in danes | music criticism – yesterday and today
und dem katholischen Süden (inklusive Österreichs), dem sog. „mittägli-
chen Deutschland“7 sehr ausgeprägt, dessen Affinität zur italienischen Mu-
sik in norddeutschen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts oft kritisiert worden
war.8 Erst auf dem Höhepunkt der gesamtdeutsch-patriotischen Aufwal-
lungen während der Befreiungskriege gegen Napoleon trat eine Tendenz
zu musikkulturellem Nationalstolz deutlicher hervor. So bezeichnete der
Sondershäuser Hoforganist, -sekretär und Lexikograph Ernst Ludwig Ger-
ber 1813 in der AmZ die Symphonien Haydns, Mozarts und Beethovens als
„das non plus ultra in der neuesten Kunst, das Höchste und Vortrefflichste
in der Instrumentalmusik“ und Deutschland als den „alleinigen Sitz dieser
Kunstgattung“.9 Dass das kompensatorische Moment solcher Behauptun-
gen durchaus reflektiert wurde, belegt die folgende, latent ironische Äuße-
rung von Robert Schumann in seiner 1834 als Alternative zur AmZ gegrün-
deten Neuen Zeitschrift für Musik:
Wie [...] der Franzose seine Revolution, der Engländer seine Schiffahrt
usw., so [hat] der Deutsche seine Beethovenschen Symphonien; [...] mit
ihm hat er im Geist die Schlachten wieder gewonnen, die ihm Napole-
on abgenommen.10
Schumann spricht hier von einem Rezeptionsphänomen, nicht von ei-
ner patriotischen Intention des Komponisten. Dass er einer solchen skep-
tisch gegenüberstand, zeigen seine Stellungnahmen zu seinem Altersgenos-
sen Fryderyk Chopin. Denn zwar begeisterte sich Schumann für dessen
neuartige Klaviermusik und unterstrich auch deren politische Wirksam-
keit, indem er sie als „unter Blumen eingesenkte Kanonen“ bezeichnete, die
der russische Zar zu fürchten habe; dennoch legte er Chopin bereits 1836
nahe, „das kleine Interesse der Scholle, auf der er geboren“, dem „großwelt-
bürgerlichen zum Opfer [zu] bringen“ und seine „zu specielle sarmatische
Physiognomie“ zu einer „allgemeinen idealen“ weiterzuentwickeln.11
Ganz in diesem Sinn lobte die dritte Leipziger Musikzeitschrift, die
von dem Musikverleger Bartolf Senff gegründeten Signale für die musika-
7 Anon. [Johann Karl Friedrich Triest], „Bemerkungen über die Ausbildung der Ton-
kunst in Deutschland im achtzehnten Jahrhundert”, AmZ 3 (1800/01): 277f.
8 Vgl.: Keym, The Role of Intercultural Transfers, 21–3.
9 Ernst Ludwig Gerber, „Eine freundliche Vorstellung über gearbeitete Instrumental-
musik, besonders über Symphonien“, AmZ 15 (14. Juli 1813): 457f.
10 Robert Schumann, „Neue Symphonien für Orchester“, Neue Zeitschrift für Musik
[NZfM] 11 (2. Juli 1839): 1.
11 Robert Schumann, „Pianoforte. Concerte. Friedrich Chopin“, NZfM 4, Nr. 33 (22.
April 1836): 138. (Rezension von Chopins Klavierkonzerten).
92
und dem katholischen Süden (inklusive Österreichs), dem sog. „mittägli-
chen Deutschland“7 sehr ausgeprägt, dessen Affinität zur italienischen Mu-
sik in norddeutschen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts oft kritisiert worden
war.8 Erst auf dem Höhepunkt der gesamtdeutsch-patriotischen Aufwal-
lungen während der Befreiungskriege gegen Napoleon trat eine Tendenz
zu musikkulturellem Nationalstolz deutlicher hervor. So bezeichnete der
Sondershäuser Hoforganist, -sekretär und Lexikograph Ernst Ludwig Ger-
ber 1813 in der AmZ die Symphonien Haydns, Mozarts und Beethovens als
„das non plus ultra in der neuesten Kunst, das Höchste und Vortrefflichste
in der Instrumentalmusik“ und Deutschland als den „alleinigen Sitz dieser
Kunstgattung“.9 Dass das kompensatorische Moment solcher Behauptun-
gen durchaus reflektiert wurde, belegt die folgende, latent ironische Äuße-
rung von Robert Schumann in seiner 1834 als Alternative zur AmZ gegrün-
deten Neuen Zeitschrift für Musik:
Wie [...] der Franzose seine Revolution, der Engländer seine Schiffahrt
usw., so [hat] der Deutsche seine Beethovenschen Symphonien; [...] mit
ihm hat er im Geist die Schlachten wieder gewonnen, die ihm Napole-
on abgenommen.10
Schumann spricht hier von einem Rezeptionsphänomen, nicht von ei-
ner patriotischen Intention des Komponisten. Dass er einer solchen skep-
tisch gegenüberstand, zeigen seine Stellungnahmen zu seinem Altersgenos-
sen Fryderyk Chopin. Denn zwar begeisterte sich Schumann für dessen
neuartige Klaviermusik und unterstrich auch deren politische Wirksam-
keit, indem er sie als „unter Blumen eingesenkte Kanonen“ bezeichnete, die
der russische Zar zu fürchten habe; dennoch legte er Chopin bereits 1836
nahe, „das kleine Interesse der Scholle, auf der er geboren“, dem „großwelt-
bürgerlichen zum Opfer [zu] bringen“ und seine „zu specielle sarmatische
Physiognomie“ zu einer „allgemeinen idealen“ weiterzuentwickeln.11
Ganz in diesem Sinn lobte die dritte Leipziger Musikzeitschrift, die
von dem Musikverleger Bartolf Senff gegründeten Signale für die musika-
7 Anon. [Johann Karl Friedrich Triest], „Bemerkungen über die Ausbildung der Ton-
kunst in Deutschland im achtzehnten Jahrhundert”, AmZ 3 (1800/01): 277f.
8 Vgl.: Keym, The Role of Intercultural Transfers, 21–3.
9 Ernst Ludwig Gerber, „Eine freundliche Vorstellung über gearbeitete Instrumental-
musik, besonders über Symphonien“, AmZ 15 (14. Juli 1813): 457f.
10 Robert Schumann, „Neue Symphonien für Orchester“, Neue Zeitschrift für Musik
[NZfM] 11 (2. Juli 1839): 1.
11 Robert Schumann, „Pianoforte. Concerte. Friedrich Chopin“, NZfM 4, Nr. 33 (22.
April 1836): 138. (Rezension von Chopins Klavierkonzerten).
92