Page 91 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2024. Glasbena kritika – nekoč in danes ▪︎ Music Criticism – Yesterday and Today. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 7
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künstlerische vs. politische aspekte von musikkritik ...
te Alleinstellungsmerkmale, die man u.a. in den großen, komplexen Inst-
rumentalwerken der drei Wiener Komponisten fand. Die Begeisterung für
dieses anspruchsvolle Repertoire wurde maßgeblich durch die Identitäts-
bedürfnisse des deutschen Bürgertums gefördert: seinen national-patrio-
tischen Gefühlen, aber auch seinen sozialen Bedürfnissen der Abgrenzung
nach oben und unten, gegen den traditionsgemäß auf die Oper fokussierten
Adel und die vermeintlich kulturlosen Unterschichten. Tatsächlich ging die
Aufwertung des neuen Wiener Instrumentalstils von einem lokalen Son-
derweg zu einem gesamtdeutschen Kulturerbe publizistisch weniger von
der Donauresidenz aus als vielmehr von der sächsischen Buch-, Messe- und
Universitätsstadt Leipzig, die im Zuge dieses Prozesses auch zu einer „Mu-
sikstadt“ avancierte.4
In der Presse ist dieser Wandel klar erkennbar, insbesondere anhand
der Allgemeinen musikalischen Zeitung (AmZ), der ersten Musikfachzeit-
schrift weltweit, die sich länger als nur ein paar Jahre gehalten hat: Lag ihr
Schwerpunkt in den ersten Jahrgängen noch stark auf italienischer und
französischer Oper (obwohl die Titelbilder mehrheitlich von Porträts mit-
tel- und norddeutscher Komponisten geziert werden), so verschob er sich
bald auf Instrumentalmusik und Symphoniekonzerte, einschließlich de-
taillierter Aufstellungen der Programme am Leipziger Gewandhaus, die
auswärtigen Melomanen als Vorbild empfohlen wurden. Dass der AmZ-
Chefredakteur Friedrich Rochlitz zugleich Mitglied der Gewandhaus-Di-
rektion und als solcher verantwortlich für die Zusammenstellung der von
ihm in seiner Zeitschrift angepriesenen Konzertprogramme war,5 traf sich
dabei ebenso gut wie die Tatsache, dass die AmZ von dem alteingesessenen
Musikverlag Breitkopf & Härtel herausgegeben wurde, der einen Großteil
der gespielten Werke in seinem Sortiment führte.6
Im Diskurs dominierten anfangs eher lokalpatriotische Töne, die die
Bürgerstadt Leipzig gegenüber den höfischen Residenzen Dresden, Berlin
und Paris abzugrenzen suchten; außerdem war das Bewusstsein einer star-
ken geistig-kulturellen Differenz zwischen dem protestantischen Norden
4 Siehe dazu: Stefan Keym, „The Role of Intercultural Transfers in the Invention of
‚Classical Music‘ in Early Nineteenth-Century Leipzig“, in Intercultural Transfers
and Processes of Spatialization, Hrsg. Michel Espagne und Matthias Middell (Leip-
zig: Leipziger Universitätsverlag, 2022), 17–36.
5 Siehe: Stefan Horlitz und Marion Recknagel, Hrsg., Musik und Bürgerkultur. Leip-
zigs Aufstieg zur Musikstadt (Leipzig: Peters, 2007).
6 Siehe: Thomas Frenzel, Hrsg., Breitkopf & Härtel. 300 Jahre europäische Musik- und
Kulturgeschichte (Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 2019).
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te Alleinstellungsmerkmale, die man u.a. in den großen, komplexen Inst-
rumentalwerken der drei Wiener Komponisten fand. Die Begeisterung für
dieses anspruchsvolle Repertoire wurde maßgeblich durch die Identitäts-
bedürfnisse des deutschen Bürgertums gefördert: seinen national-patrio-
tischen Gefühlen, aber auch seinen sozialen Bedürfnissen der Abgrenzung
nach oben und unten, gegen den traditionsgemäß auf die Oper fokussierten
Adel und die vermeintlich kulturlosen Unterschichten. Tatsächlich ging die
Aufwertung des neuen Wiener Instrumentalstils von einem lokalen Son-
derweg zu einem gesamtdeutschen Kulturerbe publizistisch weniger von
der Donauresidenz aus als vielmehr von der sächsischen Buch-, Messe- und
Universitätsstadt Leipzig, die im Zuge dieses Prozesses auch zu einer „Mu-
sikstadt“ avancierte.4
In der Presse ist dieser Wandel klar erkennbar, insbesondere anhand
der Allgemeinen musikalischen Zeitung (AmZ), der ersten Musikfachzeit-
schrift weltweit, die sich länger als nur ein paar Jahre gehalten hat: Lag ihr
Schwerpunkt in den ersten Jahrgängen noch stark auf italienischer und
französischer Oper (obwohl die Titelbilder mehrheitlich von Porträts mit-
tel- und norddeutscher Komponisten geziert werden), so verschob er sich
bald auf Instrumentalmusik und Symphoniekonzerte, einschließlich de-
taillierter Aufstellungen der Programme am Leipziger Gewandhaus, die
auswärtigen Melomanen als Vorbild empfohlen wurden. Dass der AmZ-
Chefredakteur Friedrich Rochlitz zugleich Mitglied der Gewandhaus-Di-
rektion und als solcher verantwortlich für die Zusammenstellung der von
ihm in seiner Zeitschrift angepriesenen Konzertprogramme war,5 traf sich
dabei ebenso gut wie die Tatsache, dass die AmZ von dem alteingesessenen
Musikverlag Breitkopf & Härtel herausgegeben wurde, der einen Großteil
der gespielten Werke in seinem Sortiment führte.6
Im Diskurs dominierten anfangs eher lokalpatriotische Töne, die die
Bürgerstadt Leipzig gegenüber den höfischen Residenzen Dresden, Berlin
und Paris abzugrenzen suchten; außerdem war das Bewusstsein einer star-
ken geistig-kulturellen Differenz zwischen dem protestantischen Norden
4 Siehe dazu: Stefan Keym, „The Role of Intercultural Transfers in the Invention of
‚Classical Music‘ in Early Nineteenth-Century Leipzig“, in Intercultural Transfers
and Processes of Spatialization, Hrsg. Michel Espagne und Matthias Middell (Leip-
zig: Leipziger Universitätsverlag, 2022), 17–36.
5 Siehe: Stefan Horlitz und Marion Recknagel, Hrsg., Musik und Bürgerkultur. Leip-
zigs Aufstieg zur Musikstadt (Leipzig: Peters, 2007).
6 Siehe: Thomas Frenzel, Hrsg., Breitkopf & Härtel. 300 Jahre europäische Musik- und
Kulturgeschichte (Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 2019).
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