Page 94 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2024. Glasbena kritika – nekoč in danes ▪︎ Music Criticism – Yesterday and Today. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 7
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glasbena kritika – nekoč in danes | music criticism – yesterday and today
Manche konservativen Kritiker erklärten sich für schlichtweg unzu-
ständig bei national intendierten fremdländischen Kompositionen. So be-
merkte ein Rezensent der Signale 1861 über die Ouvertüre zu Michail Glin-
kas Oper Ein Leben für den Zaren, die „nationale Bedeutung“ des Werks
könne er gar „nicht würdigen […], denn wir gehören nicht zu den Untertha-
nen des ‚Kaisers aller Reußen [sic]‘“.16 Einige Rezensenten lehnten nationale
Aspekte in der Symphonik kategorisch ab. So ließ sich Eduard Bernsdorff,
der langjährige Chefkritiker der Signale, „specifisch national-musikalische
Nachempfindungen“ allenfalls dann gefallen, wenn sie
einestheils nicht mit zu großer Prätention und in zu breiter Ausdeh-
nung auftreten, anderntheils es dem außerhalb der gerade im Spiele sei-
enden Nationalität Stehenden nicht allzuschwer machen, sich mit dem
Fremdartigen zu versöhnen
– eine Bedingung, die er bei Antonín Dvořáks Slavischen Tänzen eher er-
füllt sah als etwa bei der Skandinavischen Symphonie des Briten Frederick
H. Cowen.17 Dieses Urteil erklärt sich daraus, dass Bernsdorff (wie er mit
Bezug auf Johan Svendsens zweite Symphonie klarstellte) „vor allen Din-
gen […] in den höheren Kunstgattungen der Sinfonie, Sonate u.s.w.“ „kei-
ne Sympathie für das Nationalitätsprincip in der Musik“ hegte.18 Auch
Bernhard Vogel äußerte 1882 in der Neuen Zeitschrift für Musik deutliche
Skepsis gegenüber der Verwendung „südslavischer Volksweisen“ in Anton
Rubinsteins fünfter Symphonie, „weil das Slaventhum in solcher Ausgespro-
chenheit für symphonische Werke früher nicht verwerthbar schien“.19 Und in
Piotr Čajkovskijs zweiter Symphonie hielt er russische Volksweisen nur un-
ter der Voraussetzung für tolerabel, dass „der Patriot nicht auf Kosten des
Künstlers sich breit“ mache.20
Im späten 19. Jahrhundert ist eine zunehmende Durchdringung von
ästhetischen Argumenten mit nationalistischem Denken erkennbar. Dies
lässt sich exemplarisch zeigen am Diskurs über „motivisch-thematischer
Arbeit“, die im deutschen Raum seit einer 1844 von Johann Christian Lobe
16 Anon., „Achtes Ubonnementconcert in Leipzig“, SMW 19, Nr. 51 (5. Dezember
1861): 709.
17 SMW 44 (Dezember 1886), 1176.
18 G. S., „Fünftes Ubonnement=Concert im Saale des Gewandhauses zu Leipzig“,
SMW 35, Nr. 63 (November 1877): 995.
19 Bernhard Vogel, „Werke für Orchester“, NZfM 78, Nr. 4 (22. Januar 1882): 40.
20 Bernhard Vogel, „Werke für Orchester“, NZfM 77, Nr. 15 (8. April 1881): 157.
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Manche konservativen Kritiker erklärten sich für schlichtweg unzu-
ständig bei national intendierten fremdländischen Kompositionen. So be-
merkte ein Rezensent der Signale 1861 über die Ouvertüre zu Michail Glin-
kas Oper Ein Leben für den Zaren, die „nationale Bedeutung“ des Werks
könne er gar „nicht würdigen […], denn wir gehören nicht zu den Untertha-
nen des ‚Kaisers aller Reußen [sic]‘“.16 Einige Rezensenten lehnten nationale
Aspekte in der Symphonik kategorisch ab. So ließ sich Eduard Bernsdorff,
der langjährige Chefkritiker der Signale, „specifisch national-musikalische
Nachempfindungen“ allenfalls dann gefallen, wenn sie
einestheils nicht mit zu großer Prätention und in zu breiter Ausdeh-
nung auftreten, anderntheils es dem außerhalb der gerade im Spiele sei-
enden Nationalität Stehenden nicht allzuschwer machen, sich mit dem
Fremdartigen zu versöhnen
– eine Bedingung, die er bei Antonín Dvořáks Slavischen Tänzen eher er-
füllt sah als etwa bei der Skandinavischen Symphonie des Briten Frederick
H. Cowen.17 Dieses Urteil erklärt sich daraus, dass Bernsdorff (wie er mit
Bezug auf Johan Svendsens zweite Symphonie klarstellte) „vor allen Din-
gen […] in den höheren Kunstgattungen der Sinfonie, Sonate u.s.w.“ „kei-
ne Sympathie für das Nationalitätsprincip in der Musik“ hegte.18 Auch
Bernhard Vogel äußerte 1882 in der Neuen Zeitschrift für Musik deutliche
Skepsis gegenüber der Verwendung „südslavischer Volksweisen“ in Anton
Rubinsteins fünfter Symphonie, „weil das Slaventhum in solcher Ausgespro-
chenheit für symphonische Werke früher nicht verwerthbar schien“.19 Und in
Piotr Čajkovskijs zweiter Symphonie hielt er russische Volksweisen nur un-
ter der Voraussetzung für tolerabel, dass „der Patriot nicht auf Kosten des
Künstlers sich breit“ mache.20
Im späten 19. Jahrhundert ist eine zunehmende Durchdringung von
ästhetischen Argumenten mit nationalistischem Denken erkennbar. Dies
lässt sich exemplarisch zeigen am Diskurs über „motivisch-thematischer
Arbeit“, die im deutschen Raum seit einer 1844 von Johann Christian Lobe
16 Anon., „Achtes Ubonnementconcert in Leipzig“, SMW 19, Nr. 51 (5. Dezember
1861): 709.
17 SMW 44 (Dezember 1886), 1176.
18 G. S., „Fünftes Ubonnement=Concert im Saale des Gewandhauses zu Leipzig“,
SMW 35, Nr. 63 (November 1877): 995.
19 Bernhard Vogel, „Werke für Orchester“, NZfM 78, Nr. 4 (22. Januar 1882): 40.
20 Bernhard Vogel, „Werke für Orchester“, NZfM 77, Nr. 15 (8. April 1881): 157.
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