Page 93 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2024. Glasbena kritika – nekoč in danes ▪︎ Music Criticism – Yesterday and Today. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 7
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künstlerische vs. politische aspekte von musikkritik ...
lische Welt, 1851 den aus Dänemark gebürtigen zeitweiligen Gewandhaus-
Kapellmeister Niels W. Gade, er habe in seiner vierten Symphonie das „nor-
dische Element“
absichtlich aus dem Kreise seiner Gedanken und Ideenwelt auszuschlie-
ßen gestrebt, um sich von den auf die Dauer hemmenden Einflüssen ei-
ner überwiegenden nationalen Färbung möglichst zu emancipiren, und
in einem weiteren und höheren Sinne zu schaffen. So manifestirt sich
Gade in seiner neuesten Schöpfung schon als ein auf durchaus deut-
schem Grund und Boden stehender Componist.12
Vor allem in der späten AmZ gab es auch konservative Kritiker, die den
nationalen Aspekt völlig ausklammerten, etwa in ihren Werkbesprechun-
gen von Gades erster und zweiter Symphonie.13 In der Neuen Zeitschrift für
Musik wiederum, die ab 1845 von der (sich später als „neudeutsch“ bezeich-
nenden) „Fortschrittspartei“ um den Liszt- und Wagner-Apologeten Franz
Brendel geleitet wurde, beklagte man den bewussten Verzicht Gades auf
nationale Elemente in dessen vierter Symphonie:
Jenes eigenthümliche, nationale Colorit, welches bei Gade’s Musik so
sehr anzieht, fehlt dieser Symphonie bis auf einige wenige Züge ganz;
der Componist bestrebt sich darin deutsch zu sein, und verliert dadurch
seine Ursprünglichkeit.14
Tatsächlich lässt sich bei der Publikumsresonanz von Gades Sympho-
nien kein eindeutiger Zusammenhang mit deren nationaler Färbung fest-
stellen. So wurde Gades heitere, „kosmopolitische“ vierte Symphonie eben-
so oft gespielt wie die national kolorierten Nr. 1 und 3.15
Die drei hier an Beispielen aus der von Mendelssohn, Schumann (und
Gade!) geprägten kurzen Leipziger „Glanzzeit“ aufgezeigten Haltungen
der Presse im Umgang mit dem Nationalen in der Symphonik – Ausklam-
merung/Ablehnung, ambivalente Würdigung und Befürwortung/Forde-
rung – haben den Diskurs der Leipziger Musikpresse auch in den folgen-
den Jahrzehnten bestimmt.
12 V., „Zwölfte Ubonnementconcert“, Signale für die musikalische Welt [SMW] 9, Nr. 4
(Januar 1851): 35f.
13 A. K. [August Kahlert], „Recenzion“, AmZ 45, Nr. 49 (6. Dezember 1843): 879; R.+,
„Nachrichten“, AmZ 46, Nr. 4 (24. Januar 1844): 62f.
14 F. G., „Leipziger Musikleben“, NZfM 36, Nr. 4 (24. Januar 1851): 37.
15 Siehe: Yvonne Wasserloos, Kulturgezeiten. Niels W. Gade und C.F.E. Horneman in
Leipzig und Kopenhagen (Hildesheim: Georg Olms, 2004), 285.
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lische Welt, 1851 den aus Dänemark gebürtigen zeitweiligen Gewandhaus-
Kapellmeister Niels W. Gade, er habe in seiner vierten Symphonie das „nor-
dische Element“
absichtlich aus dem Kreise seiner Gedanken und Ideenwelt auszuschlie-
ßen gestrebt, um sich von den auf die Dauer hemmenden Einflüssen ei-
ner überwiegenden nationalen Färbung möglichst zu emancipiren, und
in einem weiteren und höheren Sinne zu schaffen. So manifestirt sich
Gade in seiner neuesten Schöpfung schon als ein auf durchaus deut-
schem Grund und Boden stehender Componist.12
Vor allem in der späten AmZ gab es auch konservative Kritiker, die den
nationalen Aspekt völlig ausklammerten, etwa in ihren Werkbesprechun-
gen von Gades erster und zweiter Symphonie.13 In der Neuen Zeitschrift für
Musik wiederum, die ab 1845 von der (sich später als „neudeutsch“ bezeich-
nenden) „Fortschrittspartei“ um den Liszt- und Wagner-Apologeten Franz
Brendel geleitet wurde, beklagte man den bewussten Verzicht Gades auf
nationale Elemente in dessen vierter Symphonie:
Jenes eigenthümliche, nationale Colorit, welches bei Gade’s Musik so
sehr anzieht, fehlt dieser Symphonie bis auf einige wenige Züge ganz;
der Componist bestrebt sich darin deutsch zu sein, und verliert dadurch
seine Ursprünglichkeit.14
Tatsächlich lässt sich bei der Publikumsresonanz von Gades Sympho-
nien kein eindeutiger Zusammenhang mit deren nationaler Färbung fest-
stellen. So wurde Gades heitere, „kosmopolitische“ vierte Symphonie eben-
so oft gespielt wie die national kolorierten Nr. 1 und 3.15
Die drei hier an Beispielen aus der von Mendelssohn, Schumann (und
Gade!) geprägten kurzen Leipziger „Glanzzeit“ aufgezeigten Haltungen
der Presse im Umgang mit dem Nationalen in der Symphonik – Ausklam-
merung/Ablehnung, ambivalente Würdigung und Befürwortung/Forde-
rung – haben den Diskurs der Leipziger Musikpresse auch in den folgen-
den Jahrzehnten bestimmt.
12 V., „Zwölfte Ubonnementconcert“, Signale für die musikalische Welt [SMW] 9, Nr. 4
(Januar 1851): 35f.
13 A. K. [August Kahlert], „Recenzion“, AmZ 45, Nr. 49 (6. Dezember 1843): 879; R.+,
„Nachrichten“, AmZ 46, Nr. 4 (24. Januar 1844): 62f.
14 F. G., „Leipziger Musikleben“, NZfM 36, Nr. 4 (24. Januar 1851): 37.
15 Siehe: Yvonne Wasserloos, Kulturgezeiten. Niels W. Gade und C.F.E. Horneman in
Leipzig und Kopenhagen (Hildesheim: Georg Olms, 2004), 285.
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