Page 99 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2024. Glasbena kritika – nekoč in danes ▪︎ Music Criticism – Yesterday and Today. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 7
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künstlerische vs. politische aspekte von musikkritik ...
ducirt wird!“44 Die These, dass die deutsche Musik dekadent sei und da-
her etwas von fremden Künstlern lernen könne, wurde in den ersten Jah-
ren des 20. Jahrhunderts immer häufiger geäußert. Lauter blieben jedoch
die Stimmen, die wie Bernhard Vogel „vor dem wahllosen Cultus“ warnten,
„den man mit slavischen Componisten neuerdings so gern treibt“,45 während
viele einheimische Talente „seit langem auf irgendwelche Berücksichtigung“
schmachteten.46
Insgesamt betrachtet weist der Leipziger Musikdiskurs des 19. Jahr-
hunderts über ‚ausländische‘ Orchestermusik ein hohes Maß an Kontinu-
ität auf. Diese beruhte insbesondere auf einer engen Verflechtung ästheti-
scher und politischer Kriterien. Obwohl die Leipziger Musikkritik generell
weniger offen nationalistisch eingestellt war als die in der neuen Reichs-
hauptstadt Berlin (ab 1871), stand sie den meisten Gattungsbeiträgen aus-
ländischer Komponisten skeptisch gegenüber. Gerade weil die Symphonik
für die Rückversicherung der deutschen und speziell der Leipziger kultu-
rellen Identität so wichtig war, aber auch, weil man sich nur schwer von
den Kategorien einer über viele Jahre gepflegten (wenngleich zunächst aus
Wien importierten) Symphoniekultur zu emanzipieren vermochte, hielt
sich die Offenheit für Neues und Fremdes, wie sie für eine international
ausgerichtete Handelsstadt eigentlich üblich ist, in engen Grenzen. Dies
sollte sich erst im Lauf des 20. Jahrhunderts ändern.
Bibliographie
Literatur
Dahlhaus, Carl. Die Idee der absoluten Musik. Kassel/München: Bärenreiter/dtv,
1978.
Frenzel, Thomas, Hrsg. Breitkopf & Härtel. 300 Jahre europäische Musik- und Kul-
turgeschichte. Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 2019.
Horlitz, Stefan, und Marion Recknagel, Hrsg. Musik und Bürgerkultur. Leipzigs
Aufstieg zur Musikstadt. Leipzig: Peters, 2007.
Keym, Stefan, Hrsg. Motivisch-thematische Arbeit als Inbegriff der Musik. Zur Ge-
schichte und Problematik eines ‚deutschen‘ Musikdiskurses. Hildesheim: Ge-
org Olms, 2015.
44 Pf., Leipziger Zeitung, 16. Februar 1892, 599.
45 Bernhard Vogel, Leipziger Neueste Nachrichten, 22. Oktober 1897.
46 Bernhard Vogel, „Die Leipziger Tonkünstlerversammlung des ‚Allg. Deutschen Mu-
sikvereins‘“, NZfM, 10. Juni 1896, 289–91, hier 290.
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ducirt wird!“44 Die These, dass die deutsche Musik dekadent sei und da-
her etwas von fremden Künstlern lernen könne, wurde in den ersten Jah-
ren des 20. Jahrhunderts immer häufiger geäußert. Lauter blieben jedoch
die Stimmen, die wie Bernhard Vogel „vor dem wahllosen Cultus“ warnten,
„den man mit slavischen Componisten neuerdings so gern treibt“,45 während
viele einheimische Talente „seit langem auf irgendwelche Berücksichtigung“
schmachteten.46
Insgesamt betrachtet weist der Leipziger Musikdiskurs des 19. Jahr-
hunderts über ‚ausländische‘ Orchestermusik ein hohes Maß an Kontinu-
ität auf. Diese beruhte insbesondere auf einer engen Verflechtung ästheti-
scher und politischer Kriterien. Obwohl die Leipziger Musikkritik generell
weniger offen nationalistisch eingestellt war als die in der neuen Reichs-
hauptstadt Berlin (ab 1871), stand sie den meisten Gattungsbeiträgen aus-
ländischer Komponisten skeptisch gegenüber. Gerade weil die Symphonik
für die Rückversicherung der deutschen und speziell der Leipziger kultu-
rellen Identität so wichtig war, aber auch, weil man sich nur schwer von
den Kategorien einer über viele Jahre gepflegten (wenngleich zunächst aus
Wien importierten) Symphoniekultur zu emanzipieren vermochte, hielt
sich die Offenheit für Neues und Fremdes, wie sie für eine international
ausgerichtete Handelsstadt eigentlich üblich ist, in engen Grenzen. Dies
sollte sich erst im Lauf des 20. Jahrhunderts ändern.
Bibliographie
Literatur
Dahlhaus, Carl. Die Idee der absoluten Musik. Kassel/München: Bärenreiter/dtv,
1978.
Frenzel, Thomas, Hrsg. Breitkopf & Härtel. 300 Jahre europäische Musik- und Kul-
turgeschichte. Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 2019.
Horlitz, Stefan, und Marion Recknagel, Hrsg. Musik und Bürgerkultur. Leipzigs
Aufstieg zur Musikstadt. Leipzig: Peters, 2007.
Keym, Stefan, Hrsg. Motivisch-thematische Arbeit als Inbegriff der Musik. Zur Ge-
schichte und Problematik eines ‚deutschen‘ Musikdiskurses. Hildesheim: Ge-
org Olms, 2015.
44 Pf., Leipziger Zeitung, 16. Februar 1892, 599.
45 Bernhard Vogel, Leipziger Neueste Nachrichten, 22. Oktober 1897.
46 Bernhard Vogel, „Die Leipziger Tonkünstlerversammlung des ‚Allg. Deutschen Mu-
sikvereins‘“, NZfM, 10. Juni 1896, 289–91, hier 290.
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