Page 97 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2024. Glasbena kritika – nekoč in danes ▪︎ Music Criticism – Yesterday and Today. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 7
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künstlerische vs. politische aspekte von musikkritik ...
Louis Köhler gestand Saint-Saëns zwar einen „guten Einfall“ für ein
„Motiv von orchestergemäßer Natur“ zu, warf ihm jedoch vor, es nicht in
den Dienst einer umfassenden Idee zu stellen, sondern als Selbstzweck
„klug am Draht“ zu führen und „sich nett ausnehmen“ zu lassen. Während
bei dem französischen Komponisten an die Stelle eines „tiefen Gefühlsle-
bens“ und „deutschen Gemüths“ Reflexion und Phantasie träten, bleibe der
Hörer im Herzen kalt; immerhin erfreue diese Musik seinen Verstand ähn-
lich wie „gewisse feine Gebilde künstlerischer Industrie“.33 Auch das 1870
gegründete Musikalische Wochenblatt urteilte, bei diesem Werk interes-
siere „die pikante Handhabung der äußeren Mittel“ mehr als der „ideelle
Gehalt“.34 Die Neue Zeitschrift für Musik billigte Saint-Saëns zwar techni-
sche Meisterschaft und Geistreichtum zu,35 jedoch keine „thematische Ver-
tiefung“36 oder „tiefere Durcharbeitung“,37 denn als Franzose habe er kein
„wahrhaftes Verständnis“ für die „Tiefe deutschen Wesens“.
Das Klischee von der oberflächlichen französischen Musik wurde
übrigens dadurch genährt, dass man in Leipziger Konzerten, sofern man
überhaupt französische Werke aufführte, am liebsten kurze, leichte Stücke
spielte wie die erste Arlésienne-Suite und Roma von Georges Bizet, Le Rouet
d’Omphale („Das Rad der Omphale“) von Saint-Saëns oder L’Apprenti-sor-
cier („Der Zauberlehrling“) von Paul Dukas, während die „Orgelsympho-
nie“ (Nr. 3) von Saint-Saëns und die Symphonie d-Moll von César Franck
bis 1914 nur je einmal, die Symphonien von Vincent d’Indy gar nicht und
Musik von Claude Debussy erst ab 1905 präsentiert wurde.
Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune wurde bei seiner Leipziger
Erstaufführung als „Nippfigurenmusik“ und „Farbenorgie“ von „gänzlicher
Erfindungs- und Gedankenarmut“38 verunglimpft. Auch Debussys drei Or-
chesterbilder Iberia wurden 1908 nur als „kinematographen-ähnliche und
allerdings genial übermalte drastische Wirklichkeitsaufnahmen“ wahrge-
33 L. K. [Louis Köhler], „Deuxième Symphonie (en La mineur) par Camille Saint-
Saëns“, SMW 37, Nr. 51 (Oktober 1879): 802.
34 Musikalisches Wochenblatt 10 (28. Februar 1879): 118.
35 F. Stade, „Correspondenzen. Leipzig“, NZfM 72, Nr. 52 (22. Dezember 1876): 519 (zu
Danse macabre).
36 V. B., „Concert= und Kammermusik“, NZfM 72, Nr. 3 (14. Januar 1876): 23 (zum
Konzertstück op. 20).
37 Z., „Correspondenzen“, NZfM 73, Nr. 48 (23. November 1877): 508 (zu Le Rouet
d’Omphale; ebenso die beiden folgenden Zitate).
38 Leipziger Volkszeitung, 17. Oktober 1905; Paul Merkel, Leipziger Neueste Nachrich-
ten, 17. Oktober 1905, 18; C. K. [Carl Kipke], „Berichte. Leipzig“, Musikalisches Wo-
chenblatt 36, Nr. 43 (26. Oktober 1905): 766.
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Louis Köhler gestand Saint-Saëns zwar einen „guten Einfall“ für ein
„Motiv von orchestergemäßer Natur“ zu, warf ihm jedoch vor, es nicht in
den Dienst einer umfassenden Idee zu stellen, sondern als Selbstzweck
„klug am Draht“ zu führen und „sich nett ausnehmen“ zu lassen. Während
bei dem französischen Komponisten an die Stelle eines „tiefen Gefühlsle-
bens“ und „deutschen Gemüths“ Reflexion und Phantasie träten, bleibe der
Hörer im Herzen kalt; immerhin erfreue diese Musik seinen Verstand ähn-
lich wie „gewisse feine Gebilde künstlerischer Industrie“.33 Auch das 1870
gegründete Musikalische Wochenblatt urteilte, bei diesem Werk interes-
siere „die pikante Handhabung der äußeren Mittel“ mehr als der „ideelle
Gehalt“.34 Die Neue Zeitschrift für Musik billigte Saint-Saëns zwar techni-
sche Meisterschaft und Geistreichtum zu,35 jedoch keine „thematische Ver-
tiefung“36 oder „tiefere Durcharbeitung“,37 denn als Franzose habe er kein
„wahrhaftes Verständnis“ für die „Tiefe deutschen Wesens“.
Das Klischee von der oberflächlichen französischen Musik wurde
übrigens dadurch genährt, dass man in Leipziger Konzerten, sofern man
überhaupt französische Werke aufführte, am liebsten kurze, leichte Stücke
spielte wie die erste Arlésienne-Suite und Roma von Georges Bizet, Le Rouet
d’Omphale („Das Rad der Omphale“) von Saint-Saëns oder L’Apprenti-sor-
cier („Der Zauberlehrling“) von Paul Dukas, während die „Orgelsympho-
nie“ (Nr. 3) von Saint-Saëns und die Symphonie d-Moll von César Franck
bis 1914 nur je einmal, die Symphonien von Vincent d’Indy gar nicht und
Musik von Claude Debussy erst ab 1905 präsentiert wurde.
Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune wurde bei seiner Leipziger
Erstaufführung als „Nippfigurenmusik“ und „Farbenorgie“ von „gänzlicher
Erfindungs- und Gedankenarmut“38 verunglimpft. Auch Debussys drei Or-
chesterbilder Iberia wurden 1908 nur als „kinematographen-ähnliche und
allerdings genial übermalte drastische Wirklichkeitsaufnahmen“ wahrge-
33 L. K. [Louis Köhler], „Deuxième Symphonie (en La mineur) par Camille Saint-
Saëns“, SMW 37, Nr. 51 (Oktober 1879): 802.
34 Musikalisches Wochenblatt 10 (28. Februar 1879): 118.
35 F. Stade, „Correspondenzen. Leipzig“, NZfM 72, Nr. 52 (22. Dezember 1876): 519 (zu
Danse macabre).
36 V. B., „Concert= und Kammermusik“, NZfM 72, Nr. 3 (14. Januar 1876): 23 (zum
Konzertstück op. 20).
37 Z., „Correspondenzen“, NZfM 73, Nr. 48 (23. November 1877): 508 (zu Le Rouet
d’Omphale; ebenso die beiden folgenden Zitate).
38 Leipziger Volkszeitung, 17. Oktober 1905; Paul Merkel, Leipziger Neueste Nachrich-
ten, 17. Oktober 1905, 18; C. K. [Carl Kipke], „Berichte. Leipzig“, Musikalisches Wo-
chenblatt 36, Nr. 43 (26. Oktober 1905): 766.
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