Page 96 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2024. Glasbena kritika – nekoč in danes ▪︎ Music Criticism – Yesterday and Today. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 7
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glasbena kritika – nekoč in danes | music criticism – yesterday and today

Wenn da plötzlich an unvermuteter Stelle der Aufruhr in allen Inst-
rumenten losbricht, wenn die Bläser mit vollen Backen arbeiten, die
Streicher in den höchsten Lagen winseln, da wird man den Gedanken
an Sibirien, an ein Rudel bissiger Wölfe, an eine Horde ungeschlachter
Bauern, die mit der Wodkaflasche dahergeschwankt kommen, und – an
die gefürchtete Knute nicht los.28

Während sich das Leipziger Bild von russischer Symphonik erst all-
mählich entwickelte und zunächst stark variierte,29 war der Blick auf fran-
zösische Musik über weite Strecken des 19. Jahrhunderts sehr stereotyp
und negativ. Bereits in der ersten Jahrhunderthälfte hatte sich hier eine Art
Feindbild entwickelt, das primär von Oper und Operette geprägt war. Es
kreiste um das kulturchauvinistische, später auch rassistisch unterfütterte
Klischee, Franzosen könnten aufgrund ihres Nationalcharakters gar nicht
anders, als leichte, frivole Musik zu schreiben, die zwar technisch gut ge-
macht sei (vor allem in der Orchestration) und daher wirkungsvolle Effekte
und einigen Esprit biete, aber letztlich immer oberflächlich bleibe.30

So urteilte die Allgemeine musikalische Zeitung anlässlich eines aus-
schließlich Werken französischer Komponisten gewidmeten Konzerts, das
1876 (also nur fünf Jahre nach dem Deutsch-Französischen Krieg!) am Ge-
wandhaus stattfand, über Hector Berlioz, er verstehe es zwar, seine Gedanken

in interessante thematische Verflechtungen zu bringen, sowie im gros-
sen Ganzen geistvoll und wirksam zu gruppiren; freilich stellen sich
diese Gedanken nicht als innere Gemüthsergüsse, sondern als Reflexe
des combinirenden Verstandes dar.31

Berlioz’ Harold-Symphonie sei daher zwar „ein höchst geistreiches,
nicht aber zugleich ein gemütherhebendes und ideales Werk“. Auch Camil-
le Saint-Saëns’ zweiter Symphonie wurde von den Signalen ein „tieferes Be-
rührtwerden“ der Hörer kategorisch abgesprochen.32

28 M-r., Leipziger Zeitung, 9. November 1904.
29 Siehe dazu: Stefan Keym, „Auffrischung oder Abweichung von der Tradition? Prä-

senz und Wahrnehmung russischer Symphonik in Leipzig bis 1914“, in Russische
Musik in Westeuropa bis 1917: Ideen – Funktionen – Transfers, Hrsg. Stefan Keym
und Inga Mai Groote (München: edition text & kritik, 2018), 73–111.
30 Siehe: Fritz Reckow, „‚Wirkung‘ und ‚Effekt‘. Über einige Voraussetzungen, Ten-
denzen und Probleme der deutschen Berlioz-Kritik“, Die Musikforschung 33 (1980):
1–36.
31 AMZ, Neue Folge 11 (19. Januar 1876): 46.
32 Eduard Bernsdorf, „Achzehntes Aubonnent=Concert im Saale des Gewandhauses
zu Leipzig“, SMW 37, Nr. 18 (Februar 1879): 275.

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