Page 98 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2024. Glasbena kritika – nekoč in danes ▪︎ Music Criticism – Yesterday and Today. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 7
P. 98
glasbena kritika – nekoč in danes | music criticism – yesterday and today

nommen und als „disharmonierendes Nebeneinander und Nacheinander
von Klängen, Melodiebrocken und Geräuschen, nicht aber als eigenständig
wertvolle und wirklich edle Kunstwerke“.39 Immerhin mahnte Walter Nie-
mann schon 1904 mit Blick auf „jungfranzösische Klaviermusik“:

Wir müssen uns gerade hier vor der Anwendung falscher Massstäbe hü-
ten. Wir müssen suchen, uns in das Fühlen und Denken eines romani-
schen Volkes, das nun eben von dem unsrigen in den meisten Beziehun-
gen abweichend ist, einzuleben.40

1912 kritisierte Niemann Unmutsbezeugungen eines Teils des Ge-
wandhaus-Publikums gegenüber Debussys Nocturnes und empfahl sogar,
ein ganzes Konzert neuen Werken dieser „großen fremden Nation“ zu wid-
men und dadurch „produktive und, wie sich herausstellen wird, vielleicht
notwendige Anregungen“ für die Weiterentwicklung der einheimischen
Musik zu empfangen.41

Bereits 1886 hatte Martin Krause im Leipziger Tageblatt argumen-
tiert, dass „unsere vollständig ausgenützte Rhythmik dringend der Auffri-
schung mit Hilfe der Anregung von Außen bedarf “.42 Detlef Schultz betonte
anlässlich eines reinen Čajkovskij-Konzerts 1900, je mehr die einheimische
Produktion im Bereich der „Instrumentalformen der deutschen Classiker“
an Bedeutung verliere, desto williger nehme man „ausländische Leistun-
gen auf, die ihr neue Säfte zuführen könnten.“43 Ein Rezensent der Leipzi-
ger Zeitung begrüßte Borodins erste Symphonie sogar als „wahres Labsal
[…] inmitten der Unmasse von Kapellmeistermusik, die in Deutschland pro-

39 Arthur Smolian, „Musikbriefe“, SMW 66, Nr. 7 (12. Februar 1908): 214; Eugen Seg-
nitz, „Konzerte. Leipzig“, NZfM/Musikalisches Wochenblatt 104/39, Nr. 7 (3. Febru-
ar 1908): 180.

40 Walter Niemann, „Neue jungfranzösische Klavierkunst“, NZfM 100, Nr. 9 (24. Feb-
ruar 1904): 151.

41 Walter Niemann, „17. Gewandhauskonzert“, Leipziger Neueste Nachrichten, 16. Feb-
ruar 1912, 17.

42 Martin Krause, „Musik. Siloti-Concert“, Leipziger Tageblatt, 11. Oktober 1886. Das
Benefizkonzert am 9. Oktober 1886 bestritt Alexander Siloti im alten Gewandhaus-
saal mit den vereinigten Kapellen der Königlich-sächsischen Regimenter Nr. 107
und 312. Auf dem Programm standen u. a. Glinkas Ouvertüre zu Ruslan und Ljud-
mila, Čajkovskijs Violinkonzert (Solist: Adolph Brodskij) sowie Elegie und Variatio-
nen aus seiner dritten Orchestersuite.

43 Detlef Schultz, „Musik. Tschaikowsky-Feier in der Alberthalle“, Leipziger Neueste
Nachrichten, 23. März 1900. Das Konzert am 21. März 1900 in der Alberthalle mit
dem Winderstein-Orchester unter Leitung von Alexander Chessin umfasste die
sechste Symphonie, Romeo und Julia, das zweite Klavierkonzert (mit Sophie Menter
als Solistin) und die Nussknacker-Suite.

98
   93   94   95   96   97   98   99   100   101   102   103