Page 95 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2024. Glasbena kritika – nekoč in danes ▪︎ Music Criticism – Yesterday and Today. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 7
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künstlerische vs. politische aspekte von musikkritik ...
publizierten Kompositionslehre21 explizit als eines der wichtigsten Stil- und
Qualitätskriterien galt, das einem Instrumentalwerk innere Geschlossen-
heit, Autonomie und damit Dauerhaftigkeit verlieh.22 1859 behauptete der
junge Felix Draeseke, Schüler Liszts, aber zuvor auch des Leipziger Conser-
vatoriums, in der Neuen Zeitschrift für Musik, nur wenige „Ausländer“ hät-
ten bislang die „Meisterschaft in dieser Kunst der Durcharbeitung“ erlangt;
dies sei der Grund, weshalb „bis zu Berlioz’ Erscheinen deutsche Autoren al-
lein in der Instrumentalmusik geherrscht haben“.23 Walter Niemann führte
die Distanz vieler nationaler Symphoniker gegenüber der thematischen Ar-
beit auf ein satztechnisches Argument zurück: Aus der „aufs Volkslied zu-
rückgreifenden Fundamentierung all’ der slavischen und skandinavischen
‚nationalen‘ Schulen“ resultiere das „Erbübel“,24 dass wir
ungezählte Wiederholungen einzelner Phrasen, transponierte Repeti-
tionen weiter Perioden [gewinnen], aber keinen Ersatz für die fehlen-
den logisch ersonnenen und zielbewusst gestalteten Entwickelungen.25
Andere Autoren gingen einen Schritt weiter, indem sie Stilmerkma-
le wie eine repetitive thematische Struktur oder scharfe Stimmungswech-
sel auf Einflüsse der Landschaft, der Geschichte oder des klischeehaft dar-
gestellten vermeintlichen Charakters der Nation zurückführten, der der
jeweilige Komponist angehörte. So war namentlich bei russischen Kom-
ponisten oft von „geistesarmen Wiederholungen“,26 Barbarei27 und vom Ein-
satz der Knute die Rede, etwa mit Bezug auf Vassilij Kalinnikovs Sympho-
nie g-Moll:
21 Johann Christian Lobe, Compositions-Lehre oder umfassende Theorie von der the-
matischen Arbeit und den modernen Instrumentalformen, aus den Werken der besten
Meister entwickelt und durch die mannigfaltigsten Beispiele erklärt (Weimar: V oigt,
1844).
22 Siehe dazu: Stefan Keym, Hrsg., Motivisch-thematische Arbeit als Inbegriff der Mu-
sik. Zur Geschichte und Problematik eines ‚deutschen‘ Musikdiskurses (Hildesheim:
Georg Olms, 2015).
23 Felix Draeseke, „Michael Glinka“, NZfM 51, Nr. 15 (7. Oktober 1859): 125.
24 Walter Niemann, „Die ausländische Klaviermusik der Gegenwart“, NZfM 101, Nr. 7
(8. Februar 1905): 135.
25 Walter Niemann, „Neue Klaviersonaten I“, NZfM 102, Nr. 7 (14. Februar 1906): 160
(zu Milij Balakirev).
26 C. M., „XX. Gewandhauskonzert“, NZfM 100, Nr. 12 (16. März 1904): 227f. (zu
Tschaikovskijs fünfter Symphonie).
27 Eduard Bernsdorff, „Drittes Ubonnement=Concert im Saale des Gewandhauses zu
Leipzig“, SMW 55, Nr. 48 (26. Oktober 1897): 754 (zu Nikolaj Rimskij-Korsakovs
Scheherazade).
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publizierten Kompositionslehre21 explizit als eines der wichtigsten Stil- und
Qualitätskriterien galt, das einem Instrumentalwerk innere Geschlossen-
heit, Autonomie und damit Dauerhaftigkeit verlieh.22 1859 behauptete der
junge Felix Draeseke, Schüler Liszts, aber zuvor auch des Leipziger Conser-
vatoriums, in der Neuen Zeitschrift für Musik, nur wenige „Ausländer“ hät-
ten bislang die „Meisterschaft in dieser Kunst der Durcharbeitung“ erlangt;
dies sei der Grund, weshalb „bis zu Berlioz’ Erscheinen deutsche Autoren al-
lein in der Instrumentalmusik geherrscht haben“.23 Walter Niemann führte
die Distanz vieler nationaler Symphoniker gegenüber der thematischen Ar-
beit auf ein satztechnisches Argument zurück: Aus der „aufs Volkslied zu-
rückgreifenden Fundamentierung all’ der slavischen und skandinavischen
‚nationalen‘ Schulen“ resultiere das „Erbübel“,24 dass wir
ungezählte Wiederholungen einzelner Phrasen, transponierte Repeti-
tionen weiter Perioden [gewinnen], aber keinen Ersatz für die fehlen-
den logisch ersonnenen und zielbewusst gestalteten Entwickelungen.25
Andere Autoren gingen einen Schritt weiter, indem sie Stilmerkma-
le wie eine repetitive thematische Struktur oder scharfe Stimmungswech-
sel auf Einflüsse der Landschaft, der Geschichte oder des klischeehaft dar-
gestellten vermeintlichen Charakters der Nation zurückführten, der der
jeweilige Komponist angehörte. So war namentlich bei russischen Kom-
ponisten oft von „geistesarmen Wiederholungen“,26 Barbarei27 und vom Ein-
satz der Knute die Rede, etwa mit Bezug auf Vassilij Kalinnikovs Sympho-
nie g-Moll:
21 Johann Christian Lobe, Compositions-Lehre oder umfassende Theorie von der the-
matischen Arbeit und den modernen Instrumentalformen, aus den Werken der besten
Meister entwickelt und durch die mannigfaltigsten Beispiele erklärt (Weimar: V oigt,
1844).
22 Siehe dazu: Stefan Keym, Hrsg., Motivisch-thematische Arbeit als Inbegriff der Mu-
sik. Zur Geschichte und Problematik eines ‚deutschen‘ Musikdiskurses (Hildesheim:
Georg Olms, 2015).
23 Felix Draeseke, „Michael Glinka“, NZfM 51, Nr. 15 (7. Oktober 1859): 125.
24 Walter Niemann, „Die ausländische Klaviermusik der Gegenwart“, NZfM 101, Nr. 7
(8. Februar 1905): 135.
25 Walter Niemann, „Neue Klaviersonaten I“, NZfM 102, Nr. 7 (14. Februar 1906): 160
(zu Milij Balakirev).
26 C. M., „XX. Gewandhauskonzert“, NZfM 100, Nr. 12 (16. März 1904): 227f. (zu
Tschaikovskijs fünfter Symphonie).
27 Eduard Bernsdorff, „Drittes Ubonnement=Concert im Saale des Gewandhauses zu
Leipzig“, SMW 55, Nr. 48 (26. Oktober 1897): 754 (zu Nikolaj Rimskij-Korsakovs
Scheherazade).
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