Page 98 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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Ansichten, besonders was die Rolle der Frauen in der Gesellschaft betrifft,
vertreten haben.
So stellt man zuerst die soziale Emanzipation von Kruschelnytska in
ihrer Grundform dar: ihren Kampf für die Menschenrechte als Frau, die
ihre professionelle Neigungen realisieren wollte. Es war außerordentlich
schwierig: „die Tochter eines griechisch-katholischen Priesters aus Galizien,
die Opernsängerin, welche auf Bühnen auftritt“ klang noch in den letzten
Jahrzehnten des XIX. Jahrhunderts wie ein Oxymoron. Die Opernkarrie-
re für eine Frau aus einer Priesterfamilie betrachtete man als etwas völlig
Unvorstellbares, trotz des kulturfreundlichen Atmosphäre ihres Zuhauses,
welches ihr die Möglichkeit gab, im Familienkreis zu musizieren, wie auch
der Teilnahme im Laienchor, in dem sie ihr Gesangstalent zum ersten Mal
unter Beweis stellen konnte und sie erfolgreich als Solistin auftrat. Darum
musste Solomia, die ihr Lebensziel als Sängerin früh erkannte, erhebliche
Einschränkungen und Hindernisse in Kauf nehmen. Zu diesen Hindernis-
sen gehörten Gerüchte ihrer Umgebung, welche ganz wenig Engagement
für die künstlerische Laufbahn von Frauen zuließ, meistens geringe Bil-
dungsmöglichkeiten für die Frauen (sie konnten nur in den Klosterschu-
len für Frauen lernen und später als Hauslehrerin oder Medizinhilfe tätig
werden). Um ihr Ziel zu erreichen, lehnte Kruschelnytska ihren Verlobten,
einen künftigen griechisch-katholischen Priester ab, der kein Verständnis
für ihre künstlerischen Strebungen aufzeigte. Als sie kurz danach ihre Ge-
sangstudien am Lemberger Konservatorium bei Professor Wysotski antrat,
entfachte sich in ihrer Umgebung ein Skandal. Sie hatte bloß Glück, dass
zu dieser Zeit die Frauenbewegung auch in Galizien immer stärker wur-
de und sie nicht ganz allein in ihrer Neigungen war. Der Vater unterstütz-
te trotzdem die Absicht seiner Tochter einer Ausbildung am Konservatori-
um, investierte dafür Geld – trotz der Unzufriedenheit mehrerer Personen
in seinem Umkreis. Solomia war bewusst, dass „der Schatten ihrer Sünde“
die ganze Familie bedeckte, wohl auch deswegen unterstützte sie später fi-
nanziell mehrere Verwandte, denen sie in schwierigen Lebenssituationen
noch lange Jahre half. Für sich selbst von dieser Zeit stellte Kruschelnytska
eine Devise fest: „Entweder alles (was vorgesehen) zu leisten – oder nie wie-
der nach Hause zurückzukehren“. 1
1 Solomia Kruschelnytska, Спогади. Матеріали. Листування [Erinnerungen. Mate-
rialien. Briefwechsel], Hrsg. Mychajlo Holowaschtschenko, in zwei Teile, Teil 2: Ma-
terialien. Briefwechsel (Kyiv: Muzytschna Ukraina, 1979), 55.
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