Page 100 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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inzwischen an Pawlyk, da dieses reflektierende Gefühl nur von der Person,
die es erlebt hat, vermittelt werden kann:
Es freut mich sehr, dass Ihnen Aida gefällt, denn ich bin so verzaubert
von ihr, dass ich manchmal aufhöre zu singen, weil ich weine. Im All-
gemeinen bewegt mich die Musik am meisten, das ist seltsam für mich,
vor allem, weil ich ein kaltes Temperament habe und nervenstark bin. 4
In einem anderen Brief bestätigte sie: „mein Ehemann wäre unglück-
lich ... ich hätte ihn nicht so sehr lieben gelernt, wie ich die Musik liebe“. 5
Briefe und Dokumente zeugen anschaulich davon, wie Kruschelnyts-
ka die Freiheit der Frau in der Gesellschaft in damaliger Zeit verstand, als
dieses Problem in ihrem konservativen Umfeld des griechisch-katholi-
schen Klerus akut war. Daher ist die Frage des weiblichen Selbstbewusst-
seins in Bezug auf die künstlerische Karriere von Kruschelnytska eng mit
dem individuellen und psychologischen Porträt der Sängerin verbunden.
Solomia Kruschelnytska zeigte ein natürliches und fruchtbares Verständ-
nis ihrer Freiheit. Ihre intellektuell verwirklichte Freiheit formte sich zu ei-
nem kohärenten System, das nicht nur die Rechte umfasste, für die sie als
Frau in Bezug auf ihre Fähigkeiten und die bewusste Wahl ihres Lebens-
weges kämpfte, sondern auch ihre Pflichten und große Verantwortung ge-
genüber sich selbst, gegenüber ihrer Familie und ihren Freunden, die an sie
glaubten und dabei sogar ihren Ruf riskierten, von der Gesellschaft verur-
teilt wurden; und schließlich gegenüber ihrem Volk, als dessen kulturelle
Botschafterin und Vertreterin sie sich betrachtete.
Die zentrale Frage des vorliegenden Vortrags besteht darin, ihre pro-
fessionelle bzw. künstlerische Emanzipation zu klären als auch Solomia´s
Hauptziel einer Opernkarriere war. Dazu muss etwas ausführlicher argu-
mentiert werden, was eigentlich „künstlerische Emanzipation“ bedeutet
und ob diese Bezeichnung auf irgendeine Weise überhaupt rechtgefertigt
wäre. Ich verwende diesen Terminus in Analogie zur „emanzipierten To-
nalität“, der „emanzipierte Tonsprache“ der Musik des XX. Jahrhunderts,
d. h. die Erweiterung des Repertoires in Richtung der neuen Musik, aber
auch die neue Einstellung zur Interpretation entweder neuerer, oder auch
romantischer Musik, in der Vertiefung ihres intellektuellen Segmentes.
Die genannte Intellektualisierung besteht in genauen Studien der his-
torisch-nationalen Umstände, in denen das Sujet der Oper sich entwickelte,
4 Ibid., 208.
5 Ibid., 219.
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