Page 99 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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die ukrainische opernsängerin solomia kruschelnytska ...
                 Unter Berücksichtigung, dass nur eine Person mit einer entsprechen-
            den psychischen Verfassung diesen harten Kampf gegen solche Lebens-
            umstände führen kann. zeichnete sich Kruschelnytska durch einen ambi-
            vertierten Psychotyp aus (ein ähnlicher Psychotyp wie bei Kruschelnytska
            bestätigt polnischer Musikwissenschaftler Mieczyslaw Tomaszewski im
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            Fall Chopin ). Dieser Psychotyp brachte männliche und weibliche Merk-
            male einer Persönlichkeit in Einklang, was sich in der Breite der Interessen
            von Kruschelnytska (von Literatur, Weltgeschichte, Philosophie bis hin in
            Politik) und ihrer intellektuellen Fähigkeiten zur Verallgemeinerung, ana-
            lytischen Studien und Lösung strategischer Aufgaben ausdrückte.
                 Diese Hypothese wird durch ihre konsequente Verteidigung ihres
            Rechts auf freie Berufswahl und -ausbildung, intellektuelle Kommunikati-
            on mit mehreren hochgebildeten Männern auf Augenhöhe und die stets of-
            fene Äußerung ihrer Standpunkte unterstrichen; es bestätigt auch ihre um-
            fassende intellektuelle Entwicklung, Kenntnisse von acht Fremdsprachen
            und das tiefe wissenschaftliche Studium jeder Rolle. Ein Zeichen ihrer er-
            folgreichen sozialen Emanzipation war die Erlangung finanzieller Unab-
            hängigkeit und praktische Vernunft, sowie die konsequente Verteidigung
            ihrer Prinzipien in Konfliktsituationen.
                 Es wäre nicht angebracht, Kruschelnytska nur als „Mann im Rock“,
            nur als aktive, rationale und intellektuelle Persönlichkeit darzustellen. Sie
            besaß auch mehrere typisch weibliche Charakterzüge, wie feine Sensibili-
            tät, ein gepflegtes Äußeres, Eleganz, den Sinn alltäglichen Komforts. Zu ei-
            nem gewissen Zeitpunkt ihres Lebens überlegte sie sogar, ob es möglich
            wäre, biologisch typisch weibliche Eigenschaften, vor allem die Geburt ei-
            nes Kindes mit ihrer Opernkariere zu verbinden. Solche Gedanken äußer-
            te sie im Brief an ihren guten Freund, den bekannten ukrainischen Schrift-
            steller Mychajlo Pawlyk. Er erwiderte: „Für die Geburt der Kinder sind
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            Millionen von Frauen bestimmt, aber Kruschelnytska ist einzig in ihrer Art“ .
                 Leider gab es noch auf dieser Stufe des Kampfes für Frauenrechte nur
            zwei Auswege: entweder die Karriere oder die Familie. In der Folge wid-
            mete sie sich völlig der Musik und dem Gesang, die ihr erlaubten, „höhe-
            re Zustände“ zu erleben. Dokumentarische Belege für ihre „Katharsis“ und
            „Einsicht“ finden sich in ihren Briefen an nächste Freunde und Verwandte,
            2    Mieczyslaw Tomaszewski, Chopin. Człowiek, dzieło, rezonans, 2. Aufl. (Kraków: s. n.,
                 2005).
            3    Kruschelnytska,  Спогади.  Матеріали.  Листування  [Erinnerungen.  Materialien.
                 Briefwechsel], Teil 2, 224.


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