Page 103 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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die ukrainische opernsängerin solomia kruschelnytska ...
Die nächste Charakteristik der selbstverwirklichten Persönlichkeiten,
welche auch der Kruschelnytska eigen wurde – Konzentration auf die Auf-
gabe, die für die Sängerin manchmal die Form der Selbstaufopferung, des
selbstlosen Dienstes an der Kunst annahm, auf deren Altar sie ihre eige-
nen existenziellen Interessen stellte. Dieses Ergebnis erfordert eine genaue
Korrelation aller konstituierenden Elemente des künstlerischen Ganzen.
Betrachtet man die Grundzüge des apollinischen und des dionysischen
Prinzips, die Nietzsche als die beiden Hauptformen der Erkenntnis und
der künstlerischen Reflexion der Welt identifiziert, so steht Kruschelnyts-
ka diesem Typus der künstlerischen Reflexion nahe, über den der deutsche
Philosoph schreibt:
Apollo, als ethische Gottheit, fordert von den Seinigen das Maß und,
um es einhalten zu können, Selbsterkenntnis. Und so läuft neben der
ästhetischen Notwendigkeit der Schönheit die Forderung des »Erkenne
dich selbst« und des »Nicht zu viel!«. 9
Zweifellos herrschte in Solomia Kruschelnytska´s individuellem Auf-
führungsstil das Prinzip vor, ihre intuitive, spontane Weltsicht war stets der
strengen Kontrolle der künstlerischen ratio untergeordnet. Dieser Künst-
lertypus zeichnet sich durch die Vielschichtigkeit des künstlerischen Pa-
radigmas aus, durch die Ablehnung eines festgelegten Kanons, durch die
Tendenz, verschiedene künstlerische Modelle auszuprobieren, und durch
eine kreative Reaktion auf verschiedene ästhetische Innovationen. Künstler
des apollinischen Typs, zu dem Solomia Kruschelnytska mit Recht gezählt
werden kann, zeigen selten Konservatismus oder einseitige Vorlieben, die
Bindung an die einigen bestimmten Rollen. Die Sängerin selbst betonte im-
mer wieder die Notwendigkeit, den Stil des Komponisten, dessen Oper sie
singen sollte, gründlich „neu zu studieren“ und „zu erfassen“. Darüber hi-
naus interessierte sie sich für die Gesamtheit des Schaffens von Komponis-
ten, den gesamten Kontext, in dem es entstanden und entwickelt ist.
Dieser persönliche psychoemotionelle Komplex der Sängerin – selbst-
verwirklichte Persönlichkeit / ambivertierter Psychotyp / apollinische
Denkensart – ermöglichte ihre erfolgreiche künstlerische Emanzipation,
die mit einer seltenen Harmonie und Parität verschiedener Pole gekenn-
zeichnet wurde: Intellekt – Einfühlsamkeit, Willensstärke – emotiona-
le Sensibilität, wobei die natürliche und vielfältige Interaktion dieser Pole
am deutlichsten in der Art und Weise ihres Auftritts zum Ausdruck kam.
9 Friedrich Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik,“ in: Fri-
edrich Nietzsche, Gesammelte Werke (München: Anaconda, 2012), 29.
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