Page 105 - Weiss, Jernej, ur. 2018. Nova glasba v “novi” Evropi med obema svetovnima vojnama ?? New Music in the “New” Europe Between the Two World Wars. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 2
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ukrainische komponistenschule in der zwischenkriegsperiode des xx jahrhunderts

- homogene Faktur mit ständig wiederholten Wendungen und Dre-
hungen, ohne Individualisierung irgendeiner horizontalen Linie,
ohne ausdrucksvolle Raumeffekte;

- einfache arme Instrumentierung, die die speziellen Klangeffekte
und Differenzierung einzelner Klangfarben der Instrumente ver-
meidet (außer den Glocken oder Trompeterruf, die als revolutio-
näre Symbole betrachtet sind).
Wenn alle diese Charakteristika zusammenzusetzen, bekommt man

eine treue klangliche Widerspiegelung wichtigster Idee der „grundlegen-
den ideologischen Methode“ totalitärer Gesellschaft: keine stilistische In-
dividualität, die den Massen unterworfen ist; kein ästhetischer Wert, der
ideologisch nicht nützlich scheint; keine Mannigfaltigkeit der Gefühle, As-
soziationen, Empfindungen, da alles nur schwarz-weiß angenommen sein
sollte.

Denn die Autorin nimmt die Kultur nicht „schwarz-weiß“, bezeichnet
man exemplarische interessante Beispiele auch in diesem Kreis, die meis-
tens dank der Erfindungskraft von Autor entstanden und auf prinzipiell
andere Intonationsideen fußten. Man erinnert in erster Linie an P­ rokofjew
mit seiner Ironie in den „sowjetischen“ Opera, aber – was betrifft die
­Ukraine – auch Isaak Dunajewskij, der für seine populären Massenlieder
die Melodien der jüdischen Hochzeit benutzte. Genauso führte Lemberger
Komponist Anatol Kos-Anatolski huzulische Weisen in die Werke zu kom-
munistischen Texten ein.

Aber diese Ausnahmen bestätigen nur die wichtigste Konsequenz, die
nach all diesem Material man ziehen könnte. Der ganze Reichtum von sti-
listischen Tendenzen, Strömungen, technischen Recherchen, thematische
und ästhetische Mannigfaltigkeit ukrainischer Kultur, die genau zum An-
fang des XX Jahrhunderts in den allgemeinen europäischen Prozess ak-
tiv und erfolgreich integrieren begann, wurde in riesigem Topf totalitärer
Vereinfachung und Primitivität des sozialistischen Realismus verbrannt.
Es war eine echte humanistische Katastrophe für das ganze Volk, die seine
natürliche Kulturentwicklung für eine längere Zeit als 30 Jahre geschlossen
hat. Nur nach dem Stalins Tod kommt zum ersten Mal zur Überwindung
dieser geistigen Erstarrung, auf der verbrannten Erde hat plötzlich ein Phä-
nomen „einer Generation der 60-er Jahre“ entstanden. In dieser Periode
beginnt die Besinnung der Blütezeit in ukrainischer Kunst 20-er Jahre, wie
auch das Andenken an die talentvollen nationalen Schriftsteller, Schauspie-
ler, Maler, Musiker, die als die blutigen Opfer des Regimes in 30-er Jah-

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