Page 53 - Weiss, Jernej, ur. 2018. Nova glasba v “novi” Evropi med obema svetovnima vojnama ?? New Music in the “New” Europe Between the Two World Wars. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 2
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oi: https://doi.org/10.26493/978-961-7023-72-5.51-62

Heilige Nüchternheit.
Der Komponist in der Moderne.
Kontinuität statt Bruch

Helmut Loos
Univerza v Leipzigu
University of Leipzig

Die Apotheose des Künstlers hatte in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
unbestritten Hochkonjunktur. Eine Flut von esoterischen Bewegungen
schrieb der Musik magische Kräfte zu und erhob ihre Vertreter zu höhe-
ren Wesen von göttlichem Rang. Der Komponist als Creator ex nihilo und
der Dirigent als souveräner Beherrscher des Orchesterkollektivs bildeten
Leitfiguren der Gesellschaft, die sie idealisierend herbeisehnte und willen-
los anzubeten bereit war. Richard Strauss bot dem Publikum beides und
verherrlichte neben anderen überragenden Ausnahmepersönlichkeiten vor
allem den Komponisten als Held in seinen Sinfonischen Dichtungen und
Opern. An Richard Wagner, Vorbild für die meisten Künstler des 20. Jahr-
hunderts, schloss er 1894 mit seiner ersten Oper Guntram an. Die Titelfi-
gur setzt sich als Kämpfer einer wohltätigen Ritterschaft für die gepeinig-
ten armen Leute ein („das bedrängte Volk“). Gleichzeitig erweist er sich
als hervorragender Sänger, ein im 19. Jahrhundert besonders beliebtes mit-
telalterliches Ideal, das dem romantischen Künstlerkult als willkommene
Vorlage diente. (In der Ballade für Chor, Soli und Orchester Taillefer op. 52
von 1902 preist Strauss nach Ludwig Uhland den besten Kämpfer und Sän-
ger des Normannenherzogs Wilhelms des Eroberers.) Als unwiderstehli-
ches Mannsbild hält Guntram die Herzogin vom Selbstmord zurück, die
ihm in Liebe verfällt. Als er mit seiner Kunst den tyrannischen Herzog zu
befrieden sucht (Musik als versöhnende Macht), muss er dessen Angriff pa-
rieren und tötet ihn. Von der Schuld des Tyrannenmords befreit er sich –

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