Page 85 - Weiss, Jernej, ur. 2018. Nova glasba v “novi” Evropi med obema svetovnima vojnama ?? New Music in the “New” Europe Between the Two World Wars. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 2
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sprechen und „sprechgesang“ als ausdrucksform ...
Zutiefst politisch ist auch Hanns Eislers 1930 verfaßtes „Lehrstück“
über einen Text von Bert Brecht, „Die Maßnahme“, das auf dem ein Jahr
zuvor geschriebenen Werk „Der Jasager“ basiert und eine chinesische kom-
munistische Zelle thematisiert. Einer von ihnen ist einverstanden, „sich
[durch Selbstmord] aus der Gemeinschaft auszuschalten“, um diese vor ih-
ren Verfolgern zu retten. „Zweck des Lehrstückes“ war es also, „politisch
unrichtiges Verhalten zu zeigen und dadurch richtiges Verhalten zu leh-
ren.“ Dabei wurden sowohl die „Agitatoren“ als auch das Parteigericht als
„kommunistische Theoretiker“ gezeichnet, die ihre Ideologie ohne Rück-
sicht auf einzelne Menschen durchsetzen wollen und kein Mitleid mit ih-
nen empfinden.
Das wichtigste Element von Eislers Vertonung ist die dem Rhythmus
der Sprache folgende rhythmische Gestaltung der Sing- und Sprechstim-
men, deren Idiomatik den Kampfliedern des Komponisten nachgebildet
ist. Hören wir in den gesprochenen „Kontrollchor“ „Wer für den Kommu-
nismus kämpft“ (Abbildung 5), der den Kampf für den Kommunismus als
„einzige“ Tugend benennt.16
Interessant ist, wie sich in Österreich nach dem am 12. Februar 1934
von den Austro-Faschisten verhängten Verbot der sozialdemokratischen
Partei und aller ihrer Unterorganisationen der Sprechchor als „linke“
Kunstform halten konnte. Prominent vertreten war hier u. a. der junge Pia-
nist Karl Steiner, der 1938 einige Monate in Dachau inhaftiert war und Mai
1939 nach Shanghai emigrieren konnte; seine Eltern nachzuholen gelang
ihm dann nicht mehr. Sein Vater starb noch in Wien an gebrochenem Her-
zen, die Mutter wurde 1942 in Auschwitz ermordet. (Ich habe vor 3 Jahren
den Briefverkehr herausgegeben und Steiners Leben und Wirken ausführ-
lich dargestellt.17) Steiner wurde noch vor dem 12. Februar 1934 – als Pianist
wie als Komponist – in Kulturvereinigungen der Arbeiterbewegung tätig,
vor allem in den Sprechchor-Veranstaltungen des Sozialdemokraten Karl
Ibaschitz, der seine Gruppe „Sprechchor der freigewerkschaftlichen Ange-
stelltenjugend“ nannte. Steiner schrieb u. a. die Musik zu dessen „Hiob“,
einem „Oratorium für Fabrikarbeiter“, das Jänner 1934 erstmals zur Auf-
führung gelangte. Die „Arbeiter-Zeitung“ war unter dem Titel „Ein prole-
tarisches Oratorium“ voll des Lobes und schrieb: „Hiob verkörpert den von
den Glücksgütern der Erde Ausgeschlossenen, den Enterbten, den Prole-
16 Hier wurde der Sprechchor „Wer für den Kommunismus kämpft“ vorgespielt.
17 Hartmut Krones, Hrsg., „An: Karl Steiner, Shanghai. Briefe ins Exil an einen Pia-
nisten der Wiener Schule“, Schriften des Wissenschaftszentrums Arnold Schönberg,
Band 4 (Wien-Köln-Weimar: Böhlau, 2013).
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Zutiefst politisch ist auch Hanns Eislers 1930 verfaßtes „Lehrstück“
über einen Text von Bert Brecht, „Die Maßnahme“, das auf dem ein Jahr
zuvor geschriebenen Werk „Der Jasager“ basiert und eine chinesische kom-
munistische Zelle thematisiert. Einer von ihnen ist einverstanden, „sich
[durch Selbstmord] aus der Gemeinschaft auszuschalten“, um diese vor ih-
ren Verfolgern zu retten. „Zweck des Lehrstückes“ war es also, „politisch
unrichtiges Verhalten zu zeigen und dadurch richtiges Verhalten zu leh-
ren.“ Dabei wurden sowohl die „Agitatoren“ als auch das Parteigericht als
„kommunistische Theoretiker“ gezeichnet, die ihre Ideologie ohne Rück-
sicht auf einzelne Menschen durchsetzen wollen und kein Mitleid mit ih-
nen empfinden.
Das wichtigste Element von Eislers Vertonung ist die dem Rhythmus
der Sprache folgende rhythmische Gestaltung der Sing- und Sprechstim-
men, deren Idiomatik den Kampfliedern des Komponisten nachgebildet
ist. Hören wir in den gesprochenen „Kontrollchor“ „Wer für den Kommu-
nismus kämpft“ (Abbildung 5), der den Kampf für den Kommunismus als
„einzige“ Tugend benennt.16
Interessant ist, wie sich in Österreich nach dem am 12. Februar 1934
von den Austro-Faschisten verhängten Verbot der sozialdemokratischen
Partei und aller ihrer Unterorganisationen der Sprechchor als „linke“
Kunstform halten konnte. Prominent vertreten war hier u. a. der junge Pia-
nist Karl Steiner, der 1938 einige Monate in Dachau inhaftiert war und Mai
1939 nach Shanghai emigrieren konnte; seine Eltern nachzuholen gelang
ihm dann nicht mehr. Sein Vater starb noch in Wien an gebrochenem Her-
zen, die Mutter wurde 1942 in Auschwitz ermordet. (Ich habe vor 3 Jahren
den Briefverkehr herausgegeben und Steiners Leben und Wirken ausführ-
lich dargestellt.17) Steiner wurde noch vor dem 12. Februar 1934 – als Pianist
wie als Komponist – in Kulturvereinigungen der Arbeiterbewegung tätig,
vor allem in den Sprechchor-Veranstaltungen des Sozialdemokraten Karl
Ibaschitz, der seine Gruppe „Sprechchor der freigewerkschaftlichen Ange-
stelltenjugend“ nannte. Steiner schrieb u. a. die Musik zu dessen „Hiob“,
einem „Oratorium für Fabrikarbeiter“, das Jänner 1934 erstmals zur Auf-
führung gelangte. Die „Arbeiter-Zeitung“ war unter dem Titel „Ein prole-
tarisches Oratorium“ voll des Lobes und schrieb: „Hiob verkörpert den von
den Glücksgütern der Erde Ausgeschlossenen, den Enterbten, den Prole-
16 Hier wurde der Sprechchor „Wer für den Kommunismus kämpft“ vorgespielt.
17 Hartmut Krones, Hrsg., „An: Karl Steiner, Shanghai. Briefe ins Exil an einen Pia-
nisten der Wiener Schule“, Schriften des Wissenschaftszentrums Arnold Schönberg,
Band 4 (Wien-Köln-Weimar: Böhlau, 2013).
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