Page 81 - Weiss, Jernej, ur. 2018. Nova glasba v “novi” Evropi med obema svetovnima vojnama ?? New Music in the “New” Europe Between the Two World Wars. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 2
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sprechen und „sprechgesang“ als ausdrucksform ...
S p r e c h c h o r . Das ist eine neue, seit dem Krieg emporgewach-
sene Kunstform der Arbeiterschaft, von einer unerhörten Wucht
und Eindringlichkeit der Wirkung. Ein Sprechchorwerk ist etwas
an Rang einem Schauspiel durchaus Gleichstehendes. Zutritt hat
jedes Alter und jedes Geschlecht. Mit Hilfe des Sprechchors führt
das ABI. [Arbeiter=Bildungsinstitut] eine neuartige Feier ein, die
proletarischen Morgenfeiern, deren Aufgabe es ist, am Sonntag
eine Stunde geistiger Erhebung und Sammlung den von der Wo-
chenfron niedergedrückten Arbeitern zu geben.“11
1924 verfaßte auch die aus dem galizischen Wadowice stammende, seit
1885 in Deutschland lebende und seit 1923 in der „Roten Fahne“ publizie-
rende Berta Lask das Werk „Die Toten rufen - Sprechchor zum Gedenken
an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg“; sie emigrierte dann 1933 über
Prag nach Moskau und kehrte 1953 in die DDR zurück, wo sie 1967 starb.
Und nach dem 1. Mai 1924, als der Sprechchor der sozialdemokrati-
schen Kunststelle unter seiner Leiterin Elisa Karau Ernst Tollers „Tag des
Proletariats“ zu Gehör brachte, gelangten bald auch in den Wiener Arbei-
ter-Sinfoniekonzerten immer wieder Sprechchöre zur Aufführung; so im
Rahmen der „Republikfeier“ vom 12. November 1925 der „Kerker“ von Fritz
Rosenfeld. In Graz war an jenem Tag Ernst Fischers „Der ewige Rebell. Ein
proletarisches Passionsspiel“ zu hören. In diesen Jahren entspann sich in
den „linken“ Blättern auch eine rege Diskussion über das neue Genre, und
Fritz Rosenfeld sah in ihm gar ein „Weihespiel bei Arbeiterfesten“12. Ernst
Fischer verfaßte 1927 ein „Rotes Requiem“, Fritz Rosenfeld 1928 „Die Stun-
de der Verbrüderung“, und ab 1925 schrieb auch Luitpold Stern regelmä-
ßig „Kantaten“ für Sprechchor: „Die neue Stadt“ oder das „Klagenfurter
F akelspiel“.
Am 18. Jänner 1931 gelangte dann in einem Arbeiter-Sinfoniekonzert
Edmund Nicks Gedichtmontage „Leben in unserer Zeit“ nach Texten Erich
Kästners (für Soli, Sprechchor, Gesangschor, Tanztruppe und Jazzorche
ster) unter dem Dirigenten Paul Amadeus Pisk zur Aufführung, und am
11 [Red.], „Vom Allgemeinen Arbeiter=Bildungsinstitut in Leipzig“, in Arbeiter=Sän-
gerzeitung. Organ des Reichsverbandes der Arbeitergesangvereine Deutschösterreichs
XXIII (1924), Nr. 2 (Nr. 215), S. 3. Die Sperrungen sind original.
12 Jürgen Doll, „Sozialdemokratisches Theater im Wien der Zwischenkriegszeit. Vom
Sprechchorwerk zu den Roten-Spieler-Szenen“, in Verdrängte Moderne – vergessene
Avantgarde. Diskurskonstellationen zwischen Literatur, Theater, Kunst und Musik in
Österreich 1918–1938, hrsg. von Primus-Heinz Kucher (Göttingen: V & R unipress,
2016), S. 79–94, hier S. 80.
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S p r e c h c h o r . Das ist eine neue, seit dem Krieg emporgewach-
sene Kunstform der Arbeiterschaft, von einer unerhörten Wucht
und Eindringlichkeit der Wirkung. Ein Sprechchorwerk ist etwas
an Rang einem Schauspiel durchaus Gleichstehendes. Zutritt hat
jedes Alter und jedes Geschlecht. Mit Hilfe des Sprechchors führt
das ABI. [Arbeiter=Bildungsinstitut] eine neuartige Feier ein, die
proletarischen Morgenfeiern, deren Aufgabe es ist, am Sonntag
eine Stunde geistiger Erhebung und Sammlung den von der Wo-
chenfron niedergedrückten Arbeitern zu geben.“11
1924 verfaßte auch die aus dem galizischen Wadowice stammende, seit
1885 in Deutschland lebende und seit 1923 in der „Roten Fahne“ publizie-
rende Berta Lask das Werk „Die Toten rufen - Sprechchor zum Gedenken
an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg“; sie emigrierte dann 1933 über
Prag nach Moskau und kehrte 1953 in die DDR zurück, wo sie 1967 starb.
Und nach dem 1. Mai 1924, als der Sprechchor der sozialdemokrati-
schen Kunststelle unter seiner Leiterin Elisa Karau Ernst Tollers „Tag des
Proletariats“ zu Gehör brachte, gelangten bald auch in den Wiener Arbei-
ter-Sinfoniekonzerten immer wieder Sprechchöre zur Aufführung; so im
Rahmen der „Republikfeier“ vom 12. November 1925 der „Kerker“ von Fritz
Rosenfeld. In Graz war an jenem Tag Ernst Fischers „Der ewige Rebell. Ein
proletarisches Passionsspiel“ zu hören. In diesen Jahren entspann sich in
den „linken“ Blättern auch eine rege Diskussion über das neue Genre, und
Fritz Rosenfeld sah in ihm gar ein „Weihespiel bei Arbeiterfesten“12. Ernst
Fischer verfaßte 1927 ein „Rotes Requiem“, Fritz Rosenfeld 1928 „Die Stun-
de der Verbrüderung“, und ab 1925 schrieb auch Luitpold Stern regelmä-
ßig „Kantaten“ für Sprechchor: „Die neue Stadt“ oder das „Klagenfurter
F akelspiel“.
Am 18. Jänner 1931 gelangte dann in einem Arbeiter-Sinfoniekonzert
Edmund Nicks Gedichtmontage „Leben in unserer Zeit“ nach Texten Erich
Kästners (für Soli, Sprechchor, Gesangschor, Tanztruppe und Jazzorche
ster) unter dem Dirigenten Paul Amadeus Pisk zur Aufführung, und am
11 [Red.], „Vom Allgemeinen Arbeiter=Bildungsinstitut in Leipzig“, in Arbeiter=Sän-
gerzeitung. Organ des Reichsverbandes der Arbeitergesangvereine Deutschösterreichs
XXIII (1924), Nr. 2 (Nr. 215), S. 3. Die Sperrungen sind original.
12 Jürgen Doll, „Sozialdemokratisches Theater im Wien der Zwischenkriegszeit. Vom
Sprechchorwerk zu den Roten-Spieler-Szenen“, in Verdrängte Moderne – vergessene
Avantgarde. Diskurskonstellationen zwischen Literatur, Theater, Kunst und Musik in
Österreich 1918–1938, hrsg. von Primus-Heinz Kucher (Göttingen: V & R unipress,
2016), S. 79–94, hier S. 80.
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