Page 47 - Weiss, Jernej, ur. 2020. Konservatoriji: profesionalizacija in specializacija glasbenega dela ▪︎ The conservatories: professionalisation and specialisation of musical activity. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 4
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das landeskonservator ium der musik zu leipzig
Hinrichsen nur unter größten Bedenken beitrat. Die finanziellen Geschäf-
te führte nun der Unternehmer Gustav Flinsch, der eine Stabilisierung der
Lage erreichte. Die verschiedenen Reformbemühungen hatten insofern Er-
folg, als 1927 die staatliche Anerkennung als Landeskonservatorium für
Musik zu Leipzig gelang, die auch mit finanzieller Absicherung verbunden
war. 1930, als der neue Oberbürgermeister Carl Goerdeler den Vorsitz des
Kuratoriums übernahm und die verwaltungstechnischen Angelegenheiten
professionell ordnete, trat Flinsch von seinen Posten zurück (er wurde we-
gen Veruntreuung verklagt).
Die Krisen des Konservatoriums, die hier nur angedeutet werden kön-
nen, sind erst in jüngster Zeit musikwissenschaftlich thematisiert worden.20
Zu lange hat eine Glorifizierung vorgeherrscht, die derartige Vorgänge
nicht realistisch darzustellen vermochte. Dass sie sich nicht auf das Selbst-
verständnis des Konservatoriums ausgewirkt hätten, erscheint höchst un-
wahrscheinlich. Dabei war die Situation in Leipzig durchaus kein Einzelfall,
sondern nur eine Facette der krisenhaften Situation in ganz Deutschland.
Vergleicht man unter diesen Prämissen einmal die beiden Bach-Umfragen,
die von der Zeitschrift Die Musik 190521 und (weniger umfangreich) 1930
veröffentlicht worden waren, so fällt auf, dass auf den 73 Seiten der ersten
Umfrage nahezu ausschließlich22 emphatische Bekenntnisse zu Bach als na-
tionalen Heroen und Kraftquell deutschen Geistes zu finden sind (berühmt
ist Max Regers Beitrag). 1930 ist einerseits eine Steigerung der Emphase zu
verzeichnen, etwa von Waldemar von Bausznern: „Er ist für mich das Un-
ermeßliche“ und Joseph Haas: „der Inbegriff alles Höchsten“,23 andererseits
20 Yvonne Wasserloos, Das Leipziger Konservatorium der Musik im 19. Jahrhundert.
Anziehung und Ausstrahlungskraft eines musikpädagogischen Modells auf das in-
ternationale Musikleben (Hildesheim, Zürich und New York: Olms, 2004); Stefan
Keym, Symphonie-Kulturtransfer. Untersuchungen zum Studienaufenthalt polni-
scher Komponisten in Deutschland und zu ihrer Auseinandersetzung mit der sym-
phonischen Tradition 1867–1918 (Hildesheim: Olms, 2010); Stefan Keym, „Leipzig
oder Berlin? Statistik und Ortswahlkriterien ausländischer Kompositionsstudenten
um 1900 als Beispiel für einen institutionsgeschichtlichen Städtevergleich“, in Mu-
sik in Leipzig, Wien und anderen Städten im 19. Und 20. Jahrhundert: Verlage – Kon-
servatorien – Salons – Vereine – Konzerte (Musik – Stadt. Traditionen und Perspek-
tiven urbaner Musikkulturen, Bd. 3), Hrsg. Stefan Keym und Katrin Stöck (Leipzig:
Gudrun Schröder Verlag, 2011), 142–164.
21 Anon., „Was ist mir Johann Sebastian Bach und was bedeutet er für unsere Zeit?“,
Die Musik 5, Bd. 17 (1905/06): 6–78.
22 Ausnahmen bilden etwa Oskar Sonneck, Hans Huber, Arnold Mendelssohn und
Georg Schumann, deren kritische Bemerkungen sich allerdings vor allem auf au-
fführungspraktische Fragen beziehen.
23 Anon., „Bekenntnisse zu Bach“, Die Musik XXII, Nr. 4 (Januar 1930): 265.
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Hinrichsen nur unter größten Bedenken beitrat. Die finanziellen Geschäf-
te führte nun der Unternehmer Gustav Flinsch, der eine Stabilisierung der
Lage erreichte. Die verschiedenen Reformbemühungen hatten insofern Er-
folg, als 1927 die staatliche Anerkennung als Landeskonservatorium für
Musik zu Leipzig gelang, die auch mit finanzieller Absicherung verbunden
war. 1930, als der neue Oberbürgermeister Carl Goerdeler den Vorsitz des
Kuratoriums übernahm und die verwaltungstechnischen Angelegenheiten
professionell ordnete, trat Flinsch von seinen Posten zurück (er wurde we-
gen Veruntreuung verklagt).
Die Krisen des Konservatoriums, die hier nur angedeutet werden kön-
nen, sind erst in jüngster Zeit musikwissenschaftlich thematisiert worden.20
Zu lange hat eine Glorifizierung vorgeherrscht, die derartige Vorgänge
nicht realistisch darzustellen vermochte. Dass sie sich nicht auf das Selbst-
verständnis des Konservatoriums ausgewirkt hätten, erscheint höchst un-
wahrscheinlich. Dabei war die Situation in Leipzig durchaus kein Einzelfall,
sondern nur eine Facette der krisenhaften Situation in ganz Deutschland.
Vergleicht man unter diesen Prämissen einmal die beiden Bach-Umfragen,
die von der Zeitschrift Die Musik 190521 und (weniger umfangreich) 1930
veröffentlicht worden waren, so fällt auf, dass auf den 73 Seiten der ersten
Umfrage nahezu ausschließlich22 emphatische Bekenntnisse zu Bach als na-
tionalen Heroen und Kraftquell deutschen Geistes zu finden sind (berühmt
ist Max Regers Beitrag). 1930 ist einerseits eine Steigerung der Emphase zu
verzeichnen, etwa von Waldemar von Bausznern: „Er ist für mich das Un-
ermeßliche“ und Joseph Haas: „der Inbegriff alles Höchsten“,23 andererseits
20 Yvonne Wasserloos, Das Leipziger Konservatorium der Musik im 19. Jahrhundert.
Anziehung und Ausstrahlungskraft eines musikpädagogischen Modells auf das in-
ternationale Musikleben (Hildesheim, Zürich und New York: Olms, 2004); Stefan
Keym, Symphonie-Kulturtransfer. Untersuchungen zum Studienaufenthalt polni-
scher Komponisten in Deutschland und zu ihrer Auseinandersetzung mit der sym-
phonischen Tradition 1867–1918 (Hildesheim: Olms, 2010); Stefan Keym, „Leipzig
oder Berlin? Statistik und Ortswahlkriterien ausländischer Kompositionsstudenten
um 1900 als Beispiel für einen institutionsgeschichtlichen Städtevergleich“, in Mu-
sik in Leipzig, Wien und anderen Städten im 19. Und 20. Jahrhundert: Verlage – Kon-
servatorien – Salons – Vereine – Konzerte (Musik – Stadt. Traditionen und Perspek-
tiven urbaner Musikkulturen, Bd. 3), Hrsg. Stefan Keym und Katrin Stöck (Leipzig:
Gudrun Schröder Verlag, 2011), 142–164.
21 Anon., „Was ist mir Johann Sebastian Bach und was bedeutet er für unsere Zeit?“,
Die Musik 5, Bd. 17 (1905/06): 6–78.
22 Ausnahmen bilden etwa Oskar Sonneck, Hans Huber, Arnold Mendelssohn und
Georg Schumann, deren kritische Bemerkungen sich allerdings vor allem auf au-
fführungspraktische Fragen beziehen.
23 Anon., „Bekenntnisse zu Bach“, Die Musik XXII, Nr. 4 (Januar 1930): 265.
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