Page 242 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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weniger „scharf“ bzw. „punktiert“ spielt. Die proportionale Präzision in der
Aufführung ist aber nicht der einzige Aspekt, der bei der Untersuchung der
interpretativen Möglichkeiten einzelner rhythmischer Gestalten heranzu-
ziehen ist. Wie bei anderen musikalischen Phänomenen (wie etwa Melo-
dik) können auch beim Rhythmus bestimmte Ereignisse als Besonderhei-
ten auftreten und bei der Aufführung betont oder hervorgehoben werden,
oder zur Deutung der ganzen Stelle beitragen, zum Beispiel im Sinne der
Erhöhung des Spannungsgrads oder auch zum Hervorrufen eines Topos.
Anhand der Tondauer entstehen außerdem verschiedene Gruppenbil-
dungen, die mit einer rhythmischen Betonung einhergehen können. Am
deutlichsten ist dies bei rhythmisierten Tonwiederholungen zu beobachten,
wie etwa am Anfang des Walzers op. 18. Bei der interpretatorischen Aus-
führung solcher Gruppen ist wie bei jeder Struktureinheit ein Anfangsak-
zent möglich. Weiterhin berichten Drake und Palmer anhand empirischer
Studien zur musikalischen Aufführung, dass diese Gruppen mit einem
längeren Notenwert enden und Musikerinnen und Musiker dazu neigen,
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den letzten Ton derselben lauter und etwas später zu spielen. Auch laut
Narmour sind die längeren Töne am Ende der Gruppe wesentlich, weil sie
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als das Bewegungsziel derselben verstanden werden können. Ein komple-
xerer Fall ist in T. 37–40 des Rondo à la mazur (Notenbeispiel 1a) zu fin-
den. Die oben beschriebene Anfangsbetonung ist bei jeder Gruppe von vier
Sechzehnteln und der abschließenden Achtel anhand der fallenden Linie,
der Bogensetzung und der diminuendo-Gabel bereits durch den Notentext
suggeriert. Spieltechnisch naheliegend bzw. anhand der Geschwindigkeit
zwecks Wahrung des lockeren Armes fast notwendig ist eine Wurfgeste
mit dem Handgelenk am Anfang jeder Gruppe, die die Betonung automa-
tisch durch die Bewegungsart schafft. Nicht im Notentext gekennzeichnet
ist die von Drake, Palmer und Narmour besprochene Betonung des letzten
Tons der Gruppe, doch auch diese ist in diesem Beispiel interpretatorisch
naheliegend und kann trotz des diminuendo angewandt werden, sogar mit
einer spieltechnischen Begründung: Wenn man mit der Wurfgeste am An-
fang der Gruppe mit dem Handgelenk in die Tastatur „eingetaucht“ ist,
dann muss man am Endpunkt derselben auch wieder „auftauchen“ und zur
2 Carolyn Drake und Caroline Palmer, „Accent Structures in Music Performance“,
Music Perception 10, Nr. 3 (1993): 345.
3 Eugene Narmour, „Melodic structuring of harmonic dissonance: A method for ana-
lysing Chopin‘s contribution to the development of harmony“, in Chopin Studies,
Hrsg. John Rink und Jim Samson (Cambridge, New York, NY, Port Melbourne, Ma-
drid: Cambridge University Press, 1991), 86.
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