Page 244 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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benötigen mehr Kraft als die kürzeren, die sie begleiten. Daraus lässt sich
eine weitere interpretatorische Botschaft ableiten: Nicht nur soll der lan-
ge Ton hervorgehoben werden, sondern die kürzeren Töne, die inzwischen
auftreten, können gezielt dynamisch reduziert werden, um die Hörbarkeit
des langen Tons zu ermöglichen. Die Absicht, den langen Ton hervorzu-
heben, kann aber auch mit anderen Mitteln erreicht werden, zum Beispiel
durch ein Zögern nach ihm: So lässt man ihn initial länger wirken und
sich unter erhöhter Aufmerksamkeit (anhand des rubato) im Bewusstsein
der Zuhörenden entfalten, bevor weitere Töne in anderen Stimmen gehört
werden.
Zwei Beispiele werden zur Untersuchung herangezogen, die die ana-
lytischen Implikationen der langen Töne beleuchten, beginnend mit dem
Anfang des Seitenthemas der dritten Sonate (Notenbeispiel 2). Die von
Stein erwähnten langen Töne am Anfang der Phrase sind in T. 41 und 45
zu beobachten. Der formale Phrasierungsbogen hat den ersten Schlag des
zweiten Taktes als Höhepunkt (in beiden Fällen das e‘‘), was unter anderem
durch die metrische Position und in T. 42 durch den Vorhalt unterstützt
wird. Doch die Phrasierung ist auch von der halben Note am Anfang der
Phrase im Sinne eines Anfangsakzents geprägt. Diese Anfangsbetonung ist
auch deshalb notwendig, um eine Verbindung zum nächsten Melodieton
zu gewährleisten. Diese Betonung ist ferner durch die Tonhöhe unterstützt,
da beide Phrasen hoch anfangen und in grundsätzlich fallender Bewegung
weitergeführt werden. Ein Anfangsakzent dieser Art ist im zweiten Zwei-
takter (T. 43f.) nicht vorhanden: Stattdessen steigt die Linie im Laufe des
ersten Taktes. Die Funktion des Tons a‘‘ in T. 44 als Phrasenhöhepunkt ist
nicht nur durch die metrische Position, sondern auch durch den langen
Notenwert unterstützt, und auch die Harmonik (Quartvorhalt) spielt dabei
eine Rolle. Dass im Takt davor mit dem h‘‘ ein noch höherer Ton vorkommt,
der durch die Punktierung ebenso hervorgehoben wird, gefährdet die be-
sondere Rolle des „langen“ a‘‘ in T. 44 nicht: Das h‘‘ kann im Phrasierungs-
bogen, der bis zum a‘‘ steigt, einen ersten, kleineren Gipfel darstellen. Bei
der Aufführung lässt sich dieses h‘‘ etwa im Sinne eines weichen Sprungs
(fis‘‘-h‘‘) mit einer vorzüglich agogischen Betonung spielen, was nicht
nur anhand des lyrischen Charakters passend wäre, sondern gleichzeitig
durch die unterschiedlichen Hervorhebungsmittel beim h‘‘ und beim met-
risch starken a‘‘ den Sprung als kleine Ausweichung aus der grundsätzlich
11 Heinrich Neuhaus, The Art of Piano Playing (London: Barrie & Jenkins, 1973), engl.
Übersetzung, 71.
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