Page 247 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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analyse des rhythmus als mittel der interpretation ...
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um eine vollständige metrische Versetzung handeln. Auch Schnabel ver-
langt mit derselben Begründung den Erhalt der regulären metrischen Be-
tonung. Ferner solle die Synkope selbst besonders („quasi vibrato“) be-
tont und der fehlende starke Ton als Echo „gehört“ werden. Bei Uhde und
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Wieland heißt es, dass Synkopen die Energie stauen und verstärken, und
dass der erste Schlag leicht abgestoßen werden sollte, während die Synko-
pe selbst einen cantabile Akzent erhält, der erst am zweiten Schlag zu in-
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nervieren ist. Denkt man diese Hinweise aus der Literatur weiter, lässt
sich feststellen, dass beim Erhalt des Metrums die restlichen Stimmen (z.
B. die Begleitung) eine wichtige Rolle spielen. Gleichzeitig sollte an die Be-
sprechung der langen Töne erinnert werden, wo festgestellt wurde, dass ein
langer Ton stärker betont ist, als die kürzeren Töne, die ihn begleiten. So
zeichnet sich ein Spannungsfeld zwischen verschiedenen Stimmen, die zu
unterschiedlichen Zeiten, mit verschiedenen Zielen und auf verschiedenen
Weisen hervorzuheben sind.
Dies wird anhand des folgenden Beispiels, T. 89 des Nocturne op. 27
Nr. 1 (Notenbeispiel 4), praktisch untersucht. Dass der synkopierte Ton gis‘‘
betont werden sollte, zeigt Chopin selbst mit einem langen Akzent. Dieses
Zeichen legt (insbesondere zusammen mit dem lyrischen Charakter des
Nocturne) eine weiche Betonung mit rubato nahe. Auch wenn andere Inter-
pretationen grundsätzlich möglich wären (nicht zuletzt ein direkter dyna-
mischer Akzent), wird in der weiteren Besprechung des Beispiels von die-
ser Option ausgegangen. Um das Metrum aufrechtzuerhalten, ist, wie oben
erklärt, eine leichte Betonung auf dem ersten Schlag notwendig, zum Bei-
spiel durch ein leichtes Abstoßen bzw. einen dynamischen Impuls auf dem
cis‘‘, wie von Uhde und Wieland nahegelegt wurde. Diese leichte dynami-
sche Stärkung des cis‘‘ und die Reduktion der Lautstärke auf dem gis‘‘ in
Zusammenhang mit dem Zögern stellen bereits zwei verschiedene Mittel
dar, die für die unterschiedlich gearteten Betonungen eingesetzt werden
können. Wichtig ist, wie oben thematisiert wurde, dass der „fehlende“ star-
ke Schlag ebenso wie der synkopierte Ton empfindbar ist. Für die Klarheit
14 Stein, Musik. Form und Darstellung, 47–9.
15 Konrad Wolff, Interpretation auf dem Klavier: Was wir von Artur Schnabel ler-
nen (München, Zürich: Piper, 1979), 68, zit. nach Sobotzik, Artur Schnabel und die
Grundfragen musikalischer Interpretationspraxis, 80.
16 Jürgen Uhde und Renate Wieland, Denken und Spielen: Studien zu einer Theorie der
musikalischen Darstellung, 3. Aufl. (Kassel, Basel, London, New York, NY, Praha:
Bärenreiter, 1990), 137.
17 Ibid., 200–1.
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