Page 308 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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            ein gewisses Zögern, die Analyse aktiv in ihren Interpretationsprozess ein-
            zubeziehen. Diese Diskrepanz spiegelt sich vor allem in der Einstufung von
            Fächern wie Harmonielehre oder musikalischen Formen als „zweitran-
            gig“ an Musikhochschulen wider. Darüber hinaus geht es in diesen Kur-
            sen selten um die praktische Anwendung der erworbenen Fähigkeiten und
            Kenntnisse auf die eigene Leistungsfähigkeit.
            Das Ziel dieses Aufsatzes ist es, zu untersuchen, wie die Analyse genutzt
            werden kann, um den Interpretationsprozess zu informieren, wobei der
            Schwerpunkt auf der Klaviermusik von Frédéric Chopin liegt. Die Dis-
            kussion beschränkt sich hier auf die Analyse des rhythmischen Aspekts
            der Musik, obwohl Verbindungen zu anderen Bereichen wie Melodie, Tex-
            tur, Gattung, Form und Harmonik zu erkennen sind. Beispiele aus Cho-
            pins Musik werden ausgewählt und untersucht, um mögliche Hinweise au-
            fzuzeigen, die ein Interpret aus der Analyse mitnehmen könnte. Der Fokus
            wird auf rhythmische Gruppierung, längere und kürzere Töne, Synkopen
            und  Überbindungen, Abweichende Teilungen des Schlages (wie Triolen,
            Quartolen usw.) sowie Pausen gelegt.
                 Schlüsselwörter: Analyse, Interpretation, Chopin, Rhythmus

                 Helmut Loos
                 Der Dirigent. Anspruch und Wirkung
            Zweimal zieht Elias Canetti in seinem 1960 erschienenen philosophischen
            Hauptwerk Masse und Macht das Konzert »Ernster Musik« als Beispiel zur
            Demonstration gesellschaftlicher Wirkungsfunktionen heran. Das Orches-
            ter gilt ihm als Muster eines Massenkristalls, einer kleinen, rigiden Gruppe
            von Menschen, die dazu dient, Massen auszulösen. In seiner Beständigkeit
            verschwinden die einzelnen Personen, trotz der verteilten Funktionen tre-
            ten sie nur als Ganzes in Erscheinung, die Orchestermusiker werden nicht
            als eigene Existenz wahrgenommen, sondern immer nur als Orchester. Ge-
            gen Ende seiner Abhandlung unternimmt Canetti eine Charakterisierung
            des Dirigenten, denn es gebe keinen anschaulicheren Ausdruck für die Na-
            tur der Macht als dessen Tätigkeit. Die Musik erscheine den Menschen als
            Hauptsache, und es gelte als ausgemacht, dass man in Konzerte gehe, um
            Sinfonien zu hören. Sie vermittle der Dirigent als Diener, sonst nichts. Er
            habe die Macht über Leben und Tod der Stimmen. Die Verschiedenheit der
            Instrumente stehe für die Verschiedenheit der Menschen, das Orchester sei
            wie eine Versammlung all ihrer wichtigsten Typen. Ihre Bereitschaft zu ge-
            horchen ermögliche es dem Dirigenten, sie in eine Einheit zu verwandeln,


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