Page 104 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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Davon zeugt eine Reihe von Kategorien-Gegensätzen, die in ihrer Tätigkeit
paritätisch koexistierten und die erklären die außerordentliche Bandbrei-
te der Opernrollen (sie sang während der za. 25 Jahre ihrer Opernauftritte
über die 60 verschiedenen Partien) und des genauso umfangreichen Kam-
merrepertoires der Sängerin: Heldentum - Lyrik, Epos - Drama, erhöhter
emotionaler Tonfall - Zurückhaltung der Gefühle, das romantische Reper-
toire - Rollen in modernen Opern usw. Das gesamte Spektrum der oben ge-
nannten psycho-emotionalen Konzepte spiegelt sich in den vielfältigen Di-
mensionen von Kruschelnytska´s schöpferischer Tätigkeit am besten wider.
In erster Reihe erwähnt man ihre außerordentlich verantwortliche
und – nochmals verwende ich diese Bezeichnung – intellektuelle Einstel-
lung zur Vorbereitung jeder Rolle auf allen Etappen. Ihre Schwester Olena
Ochrymowytsch, die die Sängerin mehrere Jahre in den Gastreisen beglei-
tete, erinnerte:
Kruschelnytska bereitete sich auf jede Rolle sehr gewissenhaft vor. Um
eine Rolle zu lernen, brauchte sie nur auf die Noten zu schauen, die sie
vom Blatt ablas, so wie jemand anderes einen gedruckten Text lesen
würde. Sie lernte die Rolle in 2–3 Tagen auswendig. Aber das war nur
der Anfang der Arbeit an der Rolle. Die Hauptsache war, die Rolle als
künstlerische Ganzheit zu begreifen, sie „einzusingen“, wie man sagt,
und das erforderte mehr Zeit. Am Tag vor der Aufführung sprach Kru-
schelnytska kaum mit jemandem, empfing keine Gäste. Sie war dabei,
sich in ihre Rolle einzufinden, sich daran zu gewöhnen. Kurz vor der
Abfahrt zum Theater stellte die Sängerin die gesamte Oper in ihrem Ge-
dächtnis dar. 10
Die Beobachtungen dieselber Autorin betreffen das Verhalten der Sän-
gerin nach ihren Auftritten:
Aus irgendeinem Grund verspürte sie immer eine Art Unzufriedenheit
mit sich selbst. Sie war sehr besorgt, wenn sie der Meinung war, dass
dieses oder jenes Fragment in einer Rolle nicht gut war …, auch wenn
alle um sie herum ihre Leistung bewunderten. Wenn sie der Meinung
war, dass sie die Rolle nicht gut kannte oder keine gute Vorstellung von
der Epoche hatte, in welcher die Handlung der Oper entfaltete, oder
auch, wenn zum Beispiel das Libretto etwas fragwürdig war, würde sie
10 Olena Kruschelnytska-Ochrymowytsch, „Все, що залишилося в пам’яті про
Соломію [Alles, was im Gedächtnis an Solomia geblieben],“ in: Solomia Kruschel-
nytska, Спогади. Матеріали. Листування [Erinnerungen. Materialien. Briefwech-
sel], Hrsg. Mychajlo Holowaschtschenko, in zwei Teile, Teil 1: Erinnerungen (Kyiv:
Muzytschna Ukraina, 1978), 65.
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