Page 221 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
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Dvořák und Hiawatha
Versuch einer literarischen

Lesart zur 9. Sinfonie

Frank Schneider, Berlin

In der Literatur über Antonín Dvořáks berühmtestes Orchesterwerk – sei-
ne Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ – herrscht zu einer gravierenden Aus-
sage des Komponisten die seltsam stillschweigende Übereinkunft, sie ent-
weder herunterzuspielen oder am Ende ganz zu verdrängen. Gemeint ist die
Mitteilung unter anderem an seinen Berliner Verleger Simrock, er sei bei
der Komposition der beiden Binnensätze, dem „Largo“ und dem „Scherzo“,
durch Szenen aus dem Versepos „The Song of Hiawatha“ des amerikanischen
Schriftstellers Henry Wadsworth Longfellow angeregt worden. Diese Dich-
tung, die noch heute zu den Gründungs-Mythen der Vereinigten Staaten und
zur Pflichtlektüre in allen Schulen gehört, entstand nach dem Vorbild der
finnischen „Kalevala“ im Jahr 1855 und wurde rasch in viele Sprachen, auch
ins Tschechische von Josef Václav Sládek, übersetzt. Dvořák gehörte zu den
Bewunderern des Werks, und so fiel bei ihm gleich zu Beginn seiner New
Yorker Jahre der Wunsch – besonders seitens seiner Patronin Jeanette Thur-
ber – nach einer Oper oder Kantate über das Sujet auf fruchtbaren Boden –
wie nicht zuletzt diesbezüglich erhaltene Skizzen belegen. Dass daraus nichts
wurde, steht auf einem anderen Blatt, und so haben wir uns in dieser Frage
mit einigen Reflexen des großen Dichtwerks in der 9. Sinfonie zu beschei-
den. Aber eben dies scheint vor allem für eine bestimmte Tradition deutscher
Musikologen an ein Sakrileg des Komponisten gleichsam gegen sich selbst zu
grenzen, als würden sich in der nobelsten Gattung orchestraler Musik der-
artig sachfremde Verankerungen des musikalischen Denkens einfach nicht
gehören! Man beschwört in schöner Hanslickscher Manier, mit einseitigen
Verweisen auf die Phalanx großer Komponisten von der Wiener Klassik bis
zu den Dvořák-Zeitgenossen Brahms und Bruckner, einen vorgeblich reinen
sinfonischen Geist, der nur immer mit sich selbst und keinesfalls mit der um-
dvořák und hiawatha – versuch einer literarischen lesart ...

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