Page 223 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
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řák und hiawatha – versuch einer literarischen lesart ...
von veritablen Beweisen, die wissenschaftliche Normen zu fordern belieben.
Aber Wahrscheinlichkeit kann der sinnlich adäquaten Rezeption eines gro
ßen Musikwerks bisweilen doch auch näher kommen und besser dienen, als
eine Wahrheit, die abstrakt bleibt oder gar nicht zu haben ist.
Wie alle las Dvořák bei Longfellow die Verwandlung einer durchaus hi-
storischen Figur – eines Mitbegründers des sogenannten „Irokesenbundes“
Ende des 17. Jahrhunderts – in eine mythische Gestalt göttlicher Herkunft,
die auf Erden eine humanisierende Funktion zu erfüllen hatte und nach er-
füllter Mission sich wieder göttlich verklärte. Hiawatha war Sohn des West-
windes, der ihn mit einer jungfräulichen Mutter zeugte, und wurde, da sie
nach der Geburt starb, von der Großmutter großgezogen. Um als Stammes-
führer akzeptiert zu werden, musste er fabelhafte Abenteuer bestehen, und
mit jedem Sieg über irgendeine feindliche Macht durfte er den Menschen
neue Fähigkeiten und Weisheiten vermitteln. An seiner Seite standen zwei
Freunde, der beste Musiker und der tapferste Krieger der Welt, sowie sei-
ne Frau Minehaha, die er sich von den Dakota holte, aber trotz seiner magi-
schen Kräfte nicht aufgrund einer verheerenden Hungersnot vor dem frühen
Tod retten konnte. Zwei Hauptaufgaben waren ihm prophezeit worden, die
er zu lösen hatte – zum einen die Befriedung der Irokesen-Stämme, die sich
jahrhundertelang unerbittlich bekriegt hatten, und zum anderen die freiwil-
lige und friedfertige Unterwerfung unter einen neuen, mächtigen Gegner:
den weißen Mann mit seiner anderen Religion, der nicht als Feind angese-
hen, sondern als überlegener Beschützer akzeptiert werden sollte. Nach die-
ser erfolgreichen Mission löste sich Hiawatha von der Erde und verklärte sich,
um auf einer fernen Insel, gemeinsam mit dem Vater, als göttlicher Herrscher
über das westliche Windreich zu gebieten. Longfellow schuf aus einer Viel-
zahl indianischer Legenden eine Kunstfigur, die Züge von Prometheus, Sieg-
fried, Jesus Christus und anderen vereinte, um zu einem eigentlich politisch-
ideologischen Zweck zu taugen: nämlich für das moderne Nordamerika
einen Schöpfungs- und Gründungs Mythos zu schaffen, der die christliche
Landnahme des Kontinents – einem in Wahrheit gegenüber der indiani-
schen Stammbevölkerung äußerst unfriedlichen, brutalen und verbrecheri-
schen Vorgang – rechtfertigen sollte und das Gewissen der weißen Amerika-
ner ruhigstellen konnte.
Für den zweiten Satz, ursprünglich als „Legende“ bezeichnet, wird in
der Regel bei Werkbesprechungen Dvořáks Bemerkung rapportiert, hier sei
er durch die Trauer Hiawathas um den Tod seiner Frau Minehaha angeregt
worden. Weitere Details dazu musikalisch zu verifizieren, erübrigt sich zu-
meist, weil der ernste, kontemplative und von innigster Zartheit erfüllte Cha-
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von veritablen Beweisen, die wissenschaftliche Normen zu fordern belieben.
Aber Wahrscheinlichkeit kann der sinnlich adäquaten Rezeption eines gro
ßen Musikwerks bisweilen doch auch näher kommen und besser dienen, als
eine Wahrheit, die abstrakt bleibt oder gar nicht zu haben ist.
Wie alle las Dvořák bei Longfellow die Verwandlung einer durchaus hi-
storischen Figur – eines Mitbegründers des sogenannten „Irokesenbundes“
Ende des 17. Jahrhunderts – in eine mythische Gestalt göttlicher Herkunft,
die auf Erden eine humanisierende Funktion zu erfüllen hatte und nach er-
füllter Mission sich wieder göttlich verklärte. Hiawatha war Sohn des West-
windes, der ihn mit einer jungfräulichen Mutter zeugte, und wurde, da sie
nach der Geburt starb, von der Großmutter großgezogen. Um als Stammes-
führer akzeptiert zu werden, musste er fabelhafte Abenteuer bestehen, und
mit jedem Sieg über irgendeine feindliche Macht durfte er den Menschen
neue Fähigkeiten und Weisheiten vermitteln. An seiner Seite standen zwei
Freunde, der beste Musiker und der tapferste Krieger der Welt, sowie sei-
ne Frau Minehaha, die er sich von den Dakota holte, aber trotz seiner magi-
schen Kräfte nicht aufgrund einer verheerenden Hungersnot vor dem frühen
Tod retten konnte. Zwei Hauptaufgaben waren ihm prophezeit worden, die
er zu lösen hatte – zum einen die Befriedung der Irokesen-Stämme, die sich
jahrhundertelang unerbittlich bekriegt hatten, und zum anderen die freiwil-
lige und friedfertige Unterwerfung unter einen neuen, mächtigen Gegner:
den weißen Mann mit seiner anderen Religion, der nicht als Feind angese-
hen, sondern als überlegener Beschützer akzeptiert werden sollte. Nach die-
ser erfolgreichen Mission löste sich Hiawatha von der Erde und verklärte sich,
um auf einer fernen Insel, gemeinsam mit dem Vater, als göttlicher Herrscher
über das westliche Windreich zu gebieten. Longfellow schuf aus einer Viel-
zahl indianischer Legenden eine Kunstfigur, die Züge von Prometheus, Sieg-
fried, Jesus Christus und anderen vereinte, um zu einem eigentlich politisch-
ideologischen Zweck zu taugen: nämlich für das moderne Nordamerika
einen Schöpfungs- und Gründungs Mythos zu schaffen, der die christliche
Landnahme des Kontinents – einem in Wahrheit gegenüber der indiani-
schen Stammbevölkerung äußerst unfriedlichen, brutalen und verbrecheri-
schen Vorgang – rechtfertigen sollte und das Gewissen der weißen Amerika-
ner ruhigstellen konnte.
Für den zweiten Satz, ursprünglich als „Legende“ bezeichnet, wird in
der Regel bei Werkbesprechungen Dvořáks Bemerkung rapportiert, hier sei
er durch die Trauer Hiawathas um den Tod seiner Frau Minehaha angeregt
worden. Weitere Details dazu musikalisch zu verifizieren, erübrigt sich zu-
meist, weil der ernste, kontemplative und von innigster Zartheit erfüllte Cha-
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