Page 222 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
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musica et artes
gebenden Welt kommuniziere – eben als frei-schwebende „Idee der absoluten
Musik“, die sich autonom geriert und fortpflanzt und nur aus sich selbst he-
raus richtig zu verstehen sei.

Im Ranking dieses philosophischen Idealismus müssen sich andere
Gattungen, vor allem vokale und angewandte, auf niederen Plätzen bewegen
und hier darf dann auch die „Sinfonische Dichtung“ mit ihrer erklärten Bin-
dung an außermusikalische Stofflichkeit ihre Wege gehen. Man glaubt, auch
bei Dvořák solche Überzeugungen verinnerlicht zu sehen, denn man ver-
weist gern – die authentischen Zusatztitel der ersten und der neunten Sinfo-
nie missachtend – auf die Folge dieser Werkreihe, nach deren Abschluss sich
der Komponist erst auf die andere Gattung der „Sinfonischen Dichtung“ ein-
gelassen habe. Solch eine arg vergröbernde Darstellung der Tatsachen vergisst
die Fülle von poetisch bzw. dramatisch angeregten Stücken von Anfang an
– man denke vor allem an die bedeutende Reihe konzertanter Ouvertüren.
Auch unterschlägt sie aufgrund fehlender Beweismittel (wie gern schweigen
sich doch auch Musiker über die internen Konditionen und Dispositionen
ihrer Kunst aus!), dass zu den unabweisbaren Selbstverständlichkeiten schöp-
ferischer Arbeit einerseits eine beständige Osmose zwischen künstlerischer
Tätigkeit und externen Bedingtheiten stattfindet. Und anderseits ist nicht
weniger evident, dass jegliche äußere Anregung in die spezifischen Materi-
al- und Konstruktions-Erfordernisse einer Kunst, ihre in der Tat autonomen
Herstellungs- und Verfahrens-Regelungen, umgedacht und ausgeformt wer-
den muss.

In diesem Sinn darf Dvořáks Mitteilung keinesfalls gering bewertet
werden, weil man etwa den Gedanken als unrein abweisen will, bei der Sin-
fonie handle es sich in nur zwei Sätzen um „reine“ Sinfonik und in zwei an-
deren um „Sinfonische Dichtungen“. Man sollte umgekehrt fragen, ob trotz
seiner Schweigsamkeit der Komponist nicht in allen Sätzen auf Motive aus
der Dichtung rekurriert – wozu vor allem die dichte motivische Vernetzung
zwischen ihnen und die Betonung ihrer engen zyklischen Verbundenheit
veranlasst. Wenn solche Motive im Rahmen der sinfonischen Konstruktion
aufzutauchen scheinen, so ist dies immer noch weit entfernt von dem Haupt-
kriterium einer „Sinfonischen Dichtung“ – dem Zusammenhang des musi-
kalischen Flusses mit einer kohärenten literarischen oder bildlichen Erzäh-
lung. Aber dass Musik aus der 9. Sinfonie mit Longfellows Poem enger und
dichter zusammenhängt als gemeinhin vermutet, kann demjenigen leicht zur
Überzeugung werden, der sich mit gleicher Intensität und vergleichender Ab-
sicht in die Musik wie in den literarischen Text vertieft. Natürlich erfüllt da-
bei das Wahrscheinliche einer Phantasie nicht die Härte und Belastbarkeit

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