Page 225 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
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řák und hiawatha – versuch einer literarischen lesart ...
pern vermag. Statt göttlichen Einspruchs darf also die Stelle als subjektiver
Kurz-Monolog, als Ausdruck einer inneren Stimme gehört werden – wenn
man voraussetzt, dass Motive und Themen allegorisch zu Zeichen realer oder
fiktiver Personen werden können. Dvořák hat in unzähligen deutlichen Fäl-
len seiner Sinfonischen Dichtungen oder musikdramatischen Arbeiten ge-
zeigt, dass er solche Möglichkeiten ganz selbstverständlich praktizierte und
sie wahrscheinlich auch nicht prinzipiell ausschloss, wenn er eine Sinfonie
ohne veröffentlichtes Programm schrieb. Seine grundlegenden musikäs-
thetischen Überzeugungen folgten keinesfalls den Hanslickschen Paradig-
men, sondern verstanden Musik als eine spezifische Kunst, Gedanken und
Gefühle ebenso auszudrücken wie beim Hören zu verstehen. Ein besonders
prägnantes Beispiel bietet hierfür die langsame Einleitung des Kopfsatzes der
Sinfonie. Generell folgt der kompositorische Impuls, wie bei anderen Kom-
ponisten in Nachfolge von Beethovens Anfang der Neunten, einer spezi-
fisch romantischen, prozessualen Idee: der Inszenierung des Entstehens und
Wachsens einer Klangtextur aus elementaren Impulsen, einer Belebung und
Kräftigung ex nihilo als Genesis mit dem Komponisten in der kleinen, kunst-
religiösen Rolle eines allvermögenden, schöpferischen Gottes.

Auch Dvořák schafft aus verschatteten Klängen mit knappen Stri-
chen, in wenigen Takten, gleichsam gehoben aus irdischer Tiefe, sein ge-
wichtigstes thematisches Subjekt, das dann als Hauptthema den Sona-
ten-Satz prägt und auch als wiederkehrendes motivisches Motto im Zyklus
der folgenden Sätze wieder begegnet. Darüber hinaus gibt es aber eine ver-
blüffende, konkretisierende Parallele zu jener Szene, in der Longfellow mit
knappen Strichen von Hiawathas Zeugung und Geburt berichtet. Wie in
vielen Mythen, nicht bloß im christlichen Dogma (an das der fromme Kom-
ponist sicher geglaubt hat) handelt es sich um eine Jungfrauen-Geburt. Ein
im Schilf träumerisch liegendes Mädchen wird sanft von den Lüften des
Westwinds berührt und gebiert kurz darauf, gleichsam schwanger ohne
Schwangerschaft, ihren halbgöttlichen Sohn – und stirbt. Einen solchen
abgekürzten Geburtsvorgang dürfte Dvořák vor Augen gehabt haben, als er
die dunklen Motive der tiefen Streicher erfand, auf ein Hornsignal die ein
verständige Replik der Holzbläser folgen ließ, mit kräftigen Gebärden im
Wechsel von Streichern und Bläsern einen vehementen Zeugungsvorgang
in Bewegung setzt, der sogleich embryonale Formen des Hauptthemas in
der Bassregion hervorbringt und nach weiteren heftigen Attacken des Tut-
ti dieses Thema in seiner entwickelten Grundgestalt, auf- und absteigenden
Dreiklangsbrechungen in den Hörnern, nebst Fortsetzung in Klarinetten
und Fagotten, ins Leben presst.

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