Page 228 - Vinkler, Jonatan, in Jernej Weiss. ur. 2014. Musica et Artes: ob osemdesetletnici Primoža Kureta. Koper: Založba Univerze na Primorskem.
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musica et artes
position furiose Märsche, ein eroberndes, unwiderstehliches Vorandrängen
von Kräften, die mit der Präzision einer geübten Militär-Maschinerie jedem
Widerstand trotzen und die historisch stattgehabte amerikanische Land-Er-
oberung bis zum vollständigen Sieg über die Urbevölkerung führen wollen.
Im Unterschied zu den historisch barbarischen Konflikten folgt Dvořák aber
der beschönigenden Longfellowschen Illusion von der weiß-amerikanischen,
selbstgerechten, christlich motivierten Anspruchshaltung und der neu ver-
innerlichten indianischen Friedfertigkeit, die durch Hiawathas erfolgreiche
Erziehungs-Missionen dominiert. Das kantable Seitenthema der Solo-Kla-
rinette, von geradezu romantischem, Weberschem Zuschnitt, setzt anstelle
militanter Gestik eine große Kantilene in verführerisch werbender Attitü-
de, die sich in Fortspinnung zu jubelnder Begeisterung – offenkundig von al-
len Seiten – steigert. In der Durchführung beginnen sich in die Verarbeitung
der satzeigenen Themen motivische Zitate aus den vorangegangenen Sätzen
zu mischen, was zu manchen heftigen Kollisionen führt. Letztlich jedoch,
nach einigermaßen regulärer, aber das Militärische bald eliminierender, zu-
nehmend sich zitathaft auflösender Reprise, kulminiert die motivische Zu-
sammenfassung aus allen Sätzen in einer großen Coda, die in vordem gat-
tungsgeschichtlich unbekannter Verdichtung und Komplexität die zyklische
Idee der Satzverklammerung realisiert. Die aus dem zweiten Satz wiederkeh-
rende, aber nun laut und massiv gesetzte Akkord-Folge signalisiert unmiss-
verständlich als Choral den Vorgang der Christianisierung, den Hiawatha
zwar seinem Volk empfohlen hatte, an dem er aber selbst nicht mehr beteiligt
sein wird. Deshalb geschieht dem letzten Auftritt seines Themas vom Beginn
der Sinfonie, inmitten der triumphierenden Thematik des Finales, eine Re-
duktion, eine Umklammerung seines motivischen Kopfs, seine „Aufhebung“
im allgemeinen Jubel versöhnenden Klanges. Gleichsam erleben wir Hiawat-
has Entleibung als Vorbereitung jener andersartigen Himmelfahrt, die ihn –
zusammen mit Minehaha? – ins Windreich seines Vaters entfernt.

Was irdisch bleibt, ist mit Dvořáks Hilfe die mythische Verklärung ei-
ner amerikanischen Legende, die zumindest bei Amerikanern die Schuld an
den alten Eigentümern des Kontinents wohl immer wieder zu verdrängen
hilft. Dies aber nur, wenn man eine hier provozierte, recht enge Verbindung
des Werks mit Longfellows großem Poem für sinnfällig hält! Dann kann
auch die Sinfonie, komponiert aus dem Blickfeld eines Europäers, wenn über-
haupt, gar nichts anderes nachempfinden als ein faszinierende Märchen „aus
der Neuen Welt“, die die dort Alte weitestgehend annektiert, inkorporiert
und bis auf ganz wenige Reste zum Verschwinden gebracht hat. Bewusste
Motivation in dieser Richtung wird man dem genialen Komponisten im Un-

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