Page 41 - Weiss, Jernej, ur. 2020. Konservatoriji: profesionalizacija in specializacija glasbenega dela ▪︎ The conservatories: professionalisation and specialisation of musical activity. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 4
P. 41
oi: https://doi.org/10.26493/978-961-7055-86-3.39-49
Das Landeskonservatorium der Musik
zu Leipzig in der Zeit nach dem Ersten
Weltkrieg
Helmut Loos
Univerza v Leipzigu
Universität Leipzig
So tiefgreifend der gesellschaftliche Bruch gewesen ist, den der Erste Welt-
krieg ausgelöst hat, so schwer ist zu bestimmen, wie er sich im Einzelnen
ausgewirkt hat. Der Wechsel vom Kaiserreich zur Republik stellte eine ge-
sellschaftspolitische Umorientierung dar, die sich auf die Künste drama-
tisch auswirkte. Der Wegfall der Zensur, die bis dahin vor allem Porno-
graphie und Blasphemie unterdrückt hatte, ermöglichte Werke von Erwin
Schulhoffs (1894–1942) Sonata Erotica (1919) und Paul Hindemiths (1895–
1963) Sancta Susanna (1922) bis hin zu Kurt Weills (1900–1950) Dreigro-
schenoper (1928). Einerseits stellten derartige Werke eine Befreiung bis
dahin unterdrückter Emotionen dar, andererseits wurden sie als unerträg-
liche Provokationen empfunden, die traditionelle Werte nicht nur in Fra-
ge stellten, sondern gänzlich zu zerstören drohten. Dabei war das alte Wer-
tesystem keineswegs vollkommen außer Kraft gesetzt, sondern behielt in
verschiedenen Bereichen seine Gültigkeit. Die Musik ist dafür ein sprechen-
des Beispiel. Vor 1914 nicht nur zur höchsten der Künste, sondern geradezu
zur Kunstreligion der Moderne von höchstem gesellschaftlichem Rang auf-
gestiegen, büßte sie ihre Bedeutung keineswegs ein, sondern wahrte ihren
Anspruch auf Verkörperung des Wahren, Guten und Schönen, indem sie
der überschwänglichen spätromantischen Überwältigungsgeste eine „hei-
lige Nüchternheit“ als Ideal entgegenstellte.1 Nun war ein Konservatorium
1 Helmut Loos, „Heilige Nüchternheit. Der Komponist in der Moderne. Kontinuität
statt Bruch“, in Nova glasba v »novi« Evropi med obema svetovnima vojnama – New
Music in the “New” Europe Between the Two World Wars, hrsg. von Jernej Weiss (Ko-
39
Das Landeskonservatorium der Musik
zu Leipzig in der Zeit nach dem Ersten
Weltkrieg
Helmut Loos
Univerza v Leipzigu
Universität Leipzig
So tiefgreifend der gesellschaftliche Bruch gewesen ist, den der Erste Welt-
krieg ausgelöst hat, so schwer ist zu bestimmen, wie er sich im Einzelnen
ausgewirkt hat. Der Wechsel vom Kaiserreich zur Republik stellte eine ge-
sellschaftspolitische Umorientierung dar, die sich auf die Künste drama-
tisch auswirkte. Der Wegfall der Zensur, die bis dahin vor allem Porno-
graphie und Blasphemie unterdrückt hatte, ermöglichte Werke von Erwin
Schulhoffs (1894–1942) Sonata Erotica (1919) und Paul Hindemiths (1895–
1963) Sancta Susanna (1922) bis hin zu Kurt Weills (1900–1950) Dreigro-
schenoper (1928). Einerseits stellten derartige Werke eine Befreiung bis
dahin unterdrückter Emotionen dar, andererseits wurden sie als unerträg-
liche Provokationen empfunden, die traditionelle Werte nicht nur in Fra-
ge stellten, sondern gänzlich zu zerstören drohten. Dabei war das alte Wer-
tesystem keineswegs vollkommen außer Kraft gesetzt, sondern behielt in
verschiedenen Bereichen seine Gültigkeit. Die Musik ist dafür ein sprechen-
des Beispiel. Vor 1914 nicht nur zur höchsten der Künste, sondern geradezu
zur Kunstreligion der Moderne von höchstem gesellschaftlichem Rang auf-
gestiegen, büßte sie ihre Bedeutung keineswegs ein, sondern wahrte ihren
Anspruch auf Verkörperung des Wahren, Guten und Schönen, indem sie
der überschwänglichen spätromantischen Überwältigungsgeste eine „hei-
lige Nüchternheit“ als Ideal entgegenstellte.1 Nun war ein Konservatorium
1 Helmut Loos, „Heilige Nüchternheit. Der Komponist in der Moderne. Kontinuität
statt Bruch“, in Nova glasba v »novi« Evropi med obema svetovnima vojnama – New
Music in the “New” Europe Between the Two World Wars, hrsg. von Jernej Weiss (Ko-
39