Page 31 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2023. Glasbena društva v dolgem 19. stoletju: med ljubiteljsko in profesionalno kulturo ▪︎ Music societies in the long 19th century: Between amateur and professional culture. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 6
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die gründung des deutschen sängerbundes (dsb) 1862 und das „österreich-problem“ ...

Des Deutschen Vaterland („Was ist des Deutschen Vaterland?“) (1813) in der
Vertonung von Gustav Reichardt (1797–1884) (op. 7, Nr. 3, 1826) entstan-
den waren, indem die Botschaft als Gloriole über einer Bildtafel schwebte,
auf der die teilnehmenden Vereine mit Wappen und Herkunftsort wie auf
einer Ahnentafel festgehalten worden waren.14 Kein anderes Chorlied als
dieses Vaterlandslied aus der Zeit der Befreiungskriege, das nach Kersten
Krüger einen „verengten intoleranten Nationalismus“ propagiert,15 hat in
der Komposition von Reichardt eine solche politische Kraft als „heimliche
Nationalhymne der deutschen Sängerbewegung bis zur Reichsgründung von
1871“ und bis an das Ende des Ersten Weltkriegs entfaltet.16 Auch das Mot-
to „Deutsches Banner / Lied & Wort / Eint in Liebe / Süd & Nord!“ auf der
Nürnberger Festfahne verweist auf dieses „national-heroische“ Gepräge.17

Das Große Deutsche Sängerfest in Nürnberg war nach Elben „ein Er-
eigniß in Deutschland: für die Sänger und auch für die Nation“ und bezei-
chnete „einen Höhepunkt, der später nicht mehr überschritten, kaum errei­
cht worden“ war.18 Das galt nach Dietmar Klenke

in organisatorischer, aber mehr noch in politisch-psychologischer
Hinsicht. Ein Gefühlsüberschwang in dieser Intensität ist später nie
wieder erreicht worden, auch auf den großen Nationalfesten der
Turner und Schützen nicht.19

Als sich am 23. Juli 1861 die Direktoren und Vorstände der einzelnen
Vereine im Nürnberger Rathaussaal versammelten und der Ruf nach Grün-

14 Exponat in der Dauerausstellung des Sängermuseums des Fränkischen Sängerbundes
in Feuchtwangen.

15 Kersten Krüger, „Dänemark, Schleswig, Holstein und die nationale Frage“, Histori­
sche Mitteilungen 32 (2020–2021) [2022], 325.

16 Dietmar Klenke, Der singende „deutsche Mann“. Gesangvereine und deutsches Natio­
nalbewußtsein von Napoleon bis Hitler (Münster: Waxmann, 1998), 66–8. Das popu-
läre Chorlied wurde auch noch in das „Kaiserliederbuch“ übernommen: Kommissi-
on für das Volksliederbuch, Hrsg., Volksliederbuch für Männerchor, Nr. 135 (Leipzig:
Peters, 1906), 304–7.

17 Exponat in der Dauerausstellung des Sängermuseums des Fränkischen Sängerbun­
des in Feuchtwangen; Dietmar Klenke, „Das nationalheroische Charisma der deut-
schen Sängerfeste am Vorabend der Einigungskriege“, in „Heil deutschem Wort und
Sang!“ Nationalidentität und Gesangskultur in der deutschen Geschichte – Tagungs­
bericht Feuchtwangen 1994, Hrsg. Friedhelm Brusniak und Dietmar Klenke (Augs-
burg: Bernd Wißner, 1995), 144–72; Klenke, Der singende „deutsche Mann“, 104–22;
Friedhelm Brusniak und Dietmar Klenke, „Sängerfeste und die Musikpolitik der
deutschen Nationalbewegung“, Die Musikforschung 52 (1999): 51–4.

18 Elben, Der volksthümliche deutsche Männergesang, 168.
19 Klenke, Der singende „deutsche Mann“, 104.

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