Page 35 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2023. Glasbena društva v dolgem 19. stoletju: med ljubiteljsko in profesionalno kulturo ▪︎ Music societies in the long 19th century: Between amateur and professional culture. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 6
P. 35
die gründung des deutschen sängerbundes (dsb) 1862 und das „österreich-problem“ ...

sicheren Ausdrucke Deutschland, belastet mit der Zwitterstellung
Österreichs; sie leidet aber auch an der Anwendung des Scheidebe­
griffs Ausland, der dem beim Nürnberger Sängertage des Vorjah­
res über die Anfrage des Londoner Liederkranzes zum Ausdrucke
gebrachten alldeutschen Gedanken widerstreitet, denn überall, wo
Deutsche wohnen, ist deutsche Erde. Wenigstens pflegen die Eng­
länder, Franzosen, überhaupt alle Völker mit kraftvollem Natio­
nalbewußtsein es ihrerseits so zu halten.28

Abgesehen von der Haltung der Autoren der DSB-Jubiläumsschrift,
die unübersehbar vom deutschen Kolonialismus- und Imperialismusgeba-
ren sowie Nationalismusdenken im Wilhelminischen Kaiserreich geprägt
war, war ihre Kritik zumindest in dem Punkte nachvollziehbar, dass die
angenommene Satzungsänderung keineswegs dazu führte, dass sich die
Hoffnung der österreichischen Delegierten, das Kaisertum würde österrei-
chischen Vereinen rückwirkend die Mitgliedschaft beim Deutschen Sän­
gerbund erlauben, erfüllte. Hatte das Ausschussmitglied Ernst Kautetzky
aus Salzburg noch bei der ersten Sitzung des Gesamtausschusses nach der
Gründung des DSB am 15. Mai 1863 in Nürnberg die Auffassung vertreten,
dass auch die österreichischen Einzelbünde in Kürze dem Deutschen Sän­
gerbund beitreten könnten, musste er schon bald darauf resigniert sein Amt
zur Verfügung stellen.29 Über das problematische Verhältnis zu den Sän-
gervereinen und Sängerbünden erstattete der DSB-Gesamtausschuss dem
zweiten DSB-Sängertag in Dresden am 25. Juli 1865 einen Bericht, in dem
die schwierige politische Situation ungeschönt beschrieben wurde. Aus die-
sem Bericht geht hervor, dass der Gesamtausschuss bei der zweiten Ge-
samtausschusssitzung in Dresden am 25. September 1864 unter dem Ein-
druck der Tatsache, dass der österreichische Berichterstatter zwar „noch
immer keine entscheidende Mitteilung“ machen konnte, allerdings von der
niederösterreichischen Statthalterei die Erlaubnis erteilt worden war, dass
„der Besuch ausländischer Sängerfeste von Seiten niederösterreichischer Ge­
sangvereine und deren künstlerische Betheiligung an denselben keinem An­
stande unterliege“.30 Damit konnte österreichischen Sängerbünden die Teil-
nahme am Ersten Deutschen Sängerbundesfest 1865 in Dresden ermöglicht
werden. Die endgültige Lösung des „Österreich-Problems“ wurde vertagt,
nicht ohne festzuhalten:

28 Ibid., 38.
29 Ibid., 39, 43.
30 Ibid., 43–4.

33
   30   31   32   33   34   35   36   37   38   39   40