Page 54 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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glasbena interpretacija ... | music interpretation ...
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            daß „das Kunstwerk seiner Konstruktion gemäß dargestellt“  erscheint, daß
            dem Publikum seine Gedanken, Themen, Gestalten, aber „nicht das Gefühl
            des Aufführenden gezeigt“  würden. Das „Recht des Komponisten“ stand für
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            ihn weit über dem „Recht des Interpreten“. 4
                 Genau das ist – und wir greifen vor – der Sinn der sogenannten „Hi-
            storischen Aufführungspraxis“, die einst vornehmlich der „Alten Musik“
            galt, bei der es aber genauso um jenes „Recht der Komponisten“ auf eine
            Realisation seiner Werke in seinem Sinne ging, und eine Realisation im Stil
            jener Zeit, in der die Werke geschrieben wurden. Und Sie alle wissen, daß
            Realisationen im Sinne der Komponisten nicht nur in grauer Vergangen-
            heit, sondern bis heute keineswegs immer im Sinn der Ausführenden sind.
            Vor allem in den „Hoch-Zeiten“ narzisstisch-diktatorischer Pultvirtuosen,
            von denen hier nur der den Künstlernamen Herbert von Karajan führende
            Heribert Karajan sowie der prominenteste Interpret des Horst-Wessel-Lie-
            des, Karl Böhm, genannt sein mögen, war das sukzessive Ersetzen dieser
            Ideale durch eine bewußt subjektiv-persönliche Interpretation gang und
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            gäbe. Die seit den Tagen Hermann Kretzschmars  und Hugo Riemanns
            hochgehaltene, wenn auch noch nicht so genannte „Historische Auffüh-
            rungspraxis“ landete bei diesen Interpreten auf dem Müll der Geschich-
            te. Und auch der mittlerweile so hochgepriesenen „historisch informierten
            Aufführungspraxis“, die sich trotz angeblicher Information selten an histo-
            rische Usancen und Erwartungen hält, sind die Intentionen der Komponi-
            sten und sogar der Komponistinnen höchst egal.
                 Parallel zu narzisstischen Künstlern betrachtete und betrachtet auch
            die  Musikwissenschaft  immer  häufiger  vornehmlich  „Interpretationen“
            und widmet sich immer seltener historischen aufführungspraktischen
            2    Rudolf Kolisch, „Schönberg als nachschaffender Künstler“, in Arnold Schönberg zum
                 fünfzigsten Geburtstag 13. September 1924. Sonderheft der Musikblätter des Anbruch
                 (6/7–8) (Wien: Universal-Edition, 1924), 306.
            3    Ibid.
            4    Arnold Schönberg, Ueber Metronomisierung [ASSV 5.3.1.57.], Typoskript im Arnold
                 Schönberg Center, T. 35.11: „Das Recht der Interpreten; giebt [!] es nicht auch ein
                 Recht der Autoren? Hat nicht der Autor immerhin auch einen Anspruch darauf seine
                 Meinung über die Ausführung seines Werkes festzulegen, wo ja doch bei der Auffüh-
                 rung kein geniale[r]er Dirigent es unterlassen wird, sich über die Meinung des Kompo-
                 nisten hinwegzusetzen?“
            5    Hermann Kretzschmar, „Einige Bemerkungen über den Vortrag alter Musik“, in
                 Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 7 (Leipzig: Peters, 1901), 53–68.
            6    Hugo Riemann, Verloren gegangene Selbstverständlichkeiten in der Musik des 15.–16.
                 Jahrhunderts (= Musikalisches Magazin, Heft 17) (Langensalza: Hermann Beyer &
                 Söhne, 1907).


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