Page 55 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
P. 55
die aufführungslehre der wiener schule als historische aufführungspraxis
Usancen, wie dies schon beim Vergleich der diesbezüglichen Bände im von
Ernst Bücken herausgegebenen (alten) Handbuch der Musikwissenschaft
(1927–1931) sowie der Bände der von Carl Dahlhaus zu verantwortenden
Unternehmung Neues Handbuch der Musikwissenschaft (1980–1992, Regi-
ster 1995) augenfällig wird. War seinerzeit ein gesamtheitlich konzipierter
7
Band der (historischen) Aufführungspraxis gewidmet, so ging es 50 Jah-
re später in mehreren Einzeldarstellungen primär um „Vortragslehre“ und
8
„Interpretation“, ohne wichtige Detailfragen der Aufführung wie Tempo,
spezielle Rhythmusprobleme, Verzierungs-Usancen und anderes genauer
zu beleuchten.
Auch die Hochhaltung der „Freiheit des Interpreten“ ist ein Ausfluß
der „Interpretationsforschung“, wobei nichts gegen die Möglichkeiten ei-
nes alternativen Umgangs mit Musik anderer Autoren gesagt sein soll, wie
sie ja seit Jahrhunderten gepflegt wurde; man denke nur an Bachs Vivaldi-
Bearbeitungen, an Mozarts „Neusichten“ von Händelschen Oratorien, an
die Mahlerschen Bearbeitungen Weberscher Opern oder die Schönberg-
schen Umformungen von Werken Bachs, Brahms’, Händels oder Monns.
Doch damals wurde wirklich „verändert“, und niemand würde den Werk-
titel ohne die zusätzliche Nennung des Bearbeiters anführen. Wenn aller-
dings in einem heutigen „traditionellen“ Konzert Werke von Ludwig van
Beethoven in einem völlig anderen Tempo als vom Komponisten intendiert
gespielt werden, und das auf Instrumenten, die ganz anders klingen und
vor allem anders gestimmt sind als zur Zeit des Komponisten, oder wenn
9
Werke von Anton Webern mit „punktueller“ Serialität ohne expressivem
„Sprachcharakter“ exekutiert (ja wörtlich: exekutiert) werden, wird kein
Bearbeiter angegeben; vielmehr wird der diese Bearbeitungen Ausführen-
de als Interpret bezeichnet – ohne daß das Publikum darüber aufgeklärt
wird, daß das Stück (z. B.) ursprünglich für ein Cembalo mit nicht gleich-
schwebender Temperatur geschrieben wurde und daß heute daher von den
12 Tönen einer Oktave eigentlich nur ein einziger „richtig“ im seinerzeiti-
gen Sinne erklingt.
7 Robert Haas, Aufführungspraxis der Musik (= Handbuch der Musikwissenschaft,
Hrsg. Ernst Bücken, Band 9) (Wildpark–Potsdam: Akademische Verlagsgesellschaft
Athenaion, 1931).
8 Hermann Danuser, Hrsg., Musikalische Interpretation (= Neues Handbuch der Mu-
sikwissenschaft, Hrsg. Carl Dahlhaus, Band 11) (Laaber: Laaber, 1992).
9 Hiezu siehe: Peter Stadlen, „Das pointillistische Mißverständnis“, ÖMZ 27 (1972):
161.
55