Page 58 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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                 Und nun gehen wir zu Arnold Schönberg weiter, der sich 1934 zur Auf-
            gabe des musikalischen Vortrags unmißverständlich geäußert hat:
                 Den Schülern wird klarzumachen sein, dass der Vortrag nicht dazu
                 dient, das ,hinreissende Temperament‘, ,die brillante Technik‘ oder die
                 ,originelle Auffassung‘ des Reproduzierenden zu zeigen, sondern: dem
                 Hörer das Stück klar und verständlich vorzuführen. Ob man Gefühle
                 darzustellen hat, welche und wie: das ist Modesache, dem Wechsel un-
                 terworfen. Ewig sind die im Material zum Ausdruck kommenden Ei-
                 genschaften. Damit ist nicht gesagt, dass das Stück nicht rühren dürfe,
                 wenn sein Inhalt so ist; dass es nicht erheitern, nicht glücklich machen
                 dürfe. Klar und verständlich dürfen, ja müssen auch diese Wirkungen
                 erzielt werden, wenn sie solchen Eindruck machen sollen. 19
                 Das wichtigste Thema in Schönbergs Sicht der richtigen Werkdarstel-
            lung ist die Artikulation. So setzte er in seinem Vortrag „Brahms, der Fort-
            schrittliche“ „die Sprache, in der musikalische Gedanken durch Töne aus-
            gedrückt werden“, vollends der Sprache gleich, „die Gefühle oder Gedanken
            durch Worte ausdrückt“; dies insofern, weil der „Wortschatz“ der Musik

                 dem Intellekt, den sie anspricht, angemessen sein muß, und insofern,
                 als die oben erwähnten Elemente ihrer Organisation funktionieren wie
                 Reim, Rhythmus, Metrum und wie die Einteilung in Strophen, Sätze,
                 Abschnitte, Kapitel etc. in Poesie und Prosa. 20

                 Genau dieser „Sprachlichkeit“ spürte Schönberg auch als Dirigent sei-
            ner Werke nach: Er paßte nicht nur, wie Rudolf Kolisch 1924 berichtete,
            „jede Phrase durch ihre Darstellungsart der Funktion an, die ihr im Orga-
            nismus des musikalischen Kunstwerkes zukommt“, sondern „verdeutlicht[e]“
            auch „die Gliederung durch eine Interpunktion, die nicht nur die Hauptab-
            schnitte trennt [und] jedes Phrasenende deutlich macht“, sondern auch
                 den Zusammenschluß mehrerer Phrasen zu einem größeren musikali-
                 schen Gebilde bewirkt [...]. Die Interpunktion erfüllt also hier eine ähnli-
                 che Aufgabe wie bei der Sprache [und] deckt die Analogie zwischen dem
                 musikalischen und dem Sprachkunstwerk auf [...]. (Einen drastischen
                 in Gustav Mahler. Interpretationen seiner Werke, Hrsg. Peter Revers und Oliver Kor-
                 te, Band 2 (Laaber: Laaber, 2011), 428–84.
            19   Arnold Schönberg, Ein Musikinstitut (1934) [ASSV 5.2.5.11]. Manuskript im Arnold
                 Schönberg Center, Sign. T38.08.
            20   Arnold Schönberg, „Brahms, der Fortschrittliche“, in: Arnold Schönberg,  Stil
                 und Gedanke. Aufsätze zur Musik (= Gesammelte Schriften 1), Hrsg. Ivan Vojtěch
                 (Frank furt am Main: S. Fischer, 1976), 35–71, hier 36.


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