Page 59 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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die aufführungslehre der wiener schule als historische aufführungspraxis
                 Gebrauch von dieser Analogie macht Schönberg, wenn er von jemand,
                 der ein Musikstück ohne Gliederung vorträgt, sagte, er musiziere so,
                 wie eine böhmische Köchin spricht.) 21
                 Im Gegensatz zu Schönberg, der immer vehement darauf hinwies, daß
            „Music ohne Organisation eine gestaltlose Masse [wäre], unauffassbar, wie
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            ein Schriftstück ohne Interpunktion“ , stehen nun die auch heute noch üb-
            lichen Dauer-Legatos großer Orchester, die aus vier zweitaktigen Phrasen
            eine achttaktige machen oder mehrere Melodieteile zu gar 20- oder mehr-
            taktigen Phrasen anwachsen lassen. Wären die Musiker Sänger, würden
            sie aus Atemnot sterben. Auch Schönberg bezog sich auf die horizontal zu
            empfindende Linie, die er in seinen Proben genauestens herausarbeitete;
            er „unterstrich niemals einzelne Akkorde“, sondern „sang“ den Instrumen-
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            ten die Melodien, „sie mit der Hand nachzeichnend, vor“ . Spätestens da
            müßten die großen Pultvirtuosen merken, daß sie kaum mehr als vier Tak-
            te ohne Atem-Zäsur singen können. Lassen wir hier Schönbergs Schwager
            Rudolf Kolisch berichteten:

                 wenn er aber eine Stelle vorsang, war das von ungeheurer Suggestiv-
                 Kraft, sofort ging einem ein Licht auf: die eigentümliche Inflektion, der
                 Tonfall [...] wurde mit einem Schlag klar. 24
                 Erinnern wir uns, daß schon Joseph Haydn bedauerte, daß es heut-
            zutage  (also  damals)  so  viele  „Tonmeister“  gäbe, „die nie singen gelernt
            hätten“ .
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                 Ähnliche Überlegungen waren der Grund, daß sich Schönberg in sei-
            nem Briefwechsel mit Ferruccio Busoni gegen dessen „konzertmäßige In-
            terpretation“ wandte, die etwa bei seinem Klavierstück op. 11/2 die Mög-
            lichkeiten des Instruments besser ausschöpfen und dessen Auffassung
            durch das Publikum erleichtern wollte. Denn auch bei Klaviermusik war
            ihm die Durchsichtigkeit sowie Artikulation des Satzes oberstes Gebot;

            21   Kolisch, „Schönberg als nachschaffender Künstler“, 306.
            22   Arnold Schönberg, Der Formbegriff (1949?) [ASSV 2.2.1.1.], Typoskript im Arnold
                 Schönberg Center, Sign. T51.16.
            23   Hans Ewald Heller, „Reflexionen zu Schönbergs Kammersymphonie“ (Juni 1918),
                 zit. nach: Arnold Schönberg, Sämtliche Werke, Abteilung IV: Orchesterwerke, Reihe
                 B, Band 11, Teil 4: Kammersymphonien, Kritischer Bericht zu Band 11, Teil 3 (Mainz,
                 Wien: Schott, Universal Edition, 2010), 157.
            24   Rudolf Kolisch in America – Aufsätze und Dokumente (= MusikTheorie. Zeitschrift
                 für Musikwissenschaft 24/3) (Laaber: Laaber, 2009), 279.
            25   Georg August Griesinger, Biographische Notizen über Joseph Haydn (Wien, 1810;
                 Neudruck Wien: Paul Kaltschmid, 1954), 61.


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