Page 56 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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                 Zugegebenermaßen ist die Bezeichnung „Historische Aufführungs-
            praxis“, die einst vornehmlich der „Alten Musik“ galt, unserem Anliegen
            mittlerweile nicht mehr ganz adäquat. Es geht (und ging) immer primär
            um jenes „Recht des Komponisten“ auf eine Realisation seiner Werke in
            seinem Sinne, gemäß seiner Intention und seinen Vorgaben (und natürlich
            auch um das „Recht der Komponistinnen“ sämtlicher Epochen) – egal, ob
            es sich um Josquin Desprez, Claudio Monteverdi, Barbara Strozzi, Hein-
            rich Schütz, Johann Sebastian Bach, die drei Meister der „Wiener Klassik“
            oder Maria Theresia Paradis einerseits handelte oder um Gustav Mahler,
            Arnold Schönberg, Anton Webern oder Dika Newlin andererseits. Pflicht
            der Interpreten (und Interpretinnen) wäre es also, diesen Intentionen nach-
            zuspüren bzw. ihnen, wo sie nicht einwandfrei aus den Noten hervorge-
            hen, aus dem historischen oder auch persönlichen Umfeld heraus nachzu-
            forschen. „Komponistenadäquate Aufführungspraxis“  wäre vielleicht die
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            richtige Bezeichnung, doch auch die im Neuen Handbuch nicht gerade ge-
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            schätzte „auktoriale Aufführungspraxis“  meint eigentlich das einzig Rich-
            tige: Kompositionen so zu singen oder zu spielen, wie dessen Autor bzw.
            Autorin es gewollt hatte.
                 Seien wir nun historisch etwas großzügig und betrachten zunächst den
            Wegbereiter der „Wiener Schule“, Gustav Mahler, der Arnold Schönberg
            mit großem Wohlwollen entgegengetreten ist, unter dem Aspekt unseres
            Beitrags. Er war laut Natalie Bauer-Lechner „von einem Aufsatz Kretzsch-
            mars über den Vortrag alter Musik sehr entzückt“, weil ihm der „ganz aus
            der Seele geschrieben“  war, er ließ in Mozarts Opern nicht nur die Ap-
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            poggiaturen genau nach den seinerzeitigen Usancen ausführen, sondern
            komponierte für die Hochzeit des Figaro auch die von Mozart nicht verton-
            te Gerichtsszene nach und schrieb hier die historisch üblichen Vorschläge
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            mit Hauptnoten aus.  Erst die „Pultvirtuosen“ haben die Appoggiaturen
            10   Hiezu siehe: Hartmut Krones, „Einleitung“, in Musikinstrumente und Musizierpra-
                 xis zur Zeit Gustav Mahlers 2 (= Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungs-
                 praxis, Hrsg. Hartmut Krones, Band 9), Hrsg. Hartmut Krones und Reinhold Kubik
                 (Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2021), 13.
            11   Hermann Danuser, „Einleitung“, in Musikalische Interpretation (= Neues Handbuch
                 der Musikwissenschaft, Hrsg. Carl Dahlhaus, Band 11) (Laaber: Laaber, 1992), 27ff.
            12   Herbert Killian,  Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner
                 (Hamburg: K. D. Wagner, 1984), 188. Hermann Kretzschmars Aufsatz „Einige Be-
                 merkungen über den Vortrag alter Musik“ findet sich im Jahrbuch der Musikbiblio-
                 thek Peters 7 (Leipzig: Peters, 1901), 53–68.
            13   Hartmut Krones, „„[...] doch behielt er jene Appoggiaturen bei [...]“. Zu Gustav Mah-
                 lers Ausführung Mozartscher Rezitative“, in Musikinstrumente und Musizierpraxis
                 zur Zeit Gustav Mahlers [1], Hrsg. Reinhold Kubik (= Wiener Schriften zur Stilkunde


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