Page 75 - Weiss, Jernej, ur. 2018. Nova glasba v “novi” Evropi med obema svetovnima vojnama ?? New Music in the “New” Europe Between the Two World Wars. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 2
P. 75
oi: https://doi.org/10.26493/978-961-7023-72-5.73-87
Sprechen und „Sprechgesang“
als Ausdrucksform für sozialkritische Inhalte
in der Musik der Zwischenkriegszeit
Hartmut Krones
Univerza za glasbo in upodabljajočo umetnost na Dunaju
University of Music and Performing Arts Vienna
Seit Schönbergs „Pierrot lunaire“ war der „Sprechgesang“ ein unorthodo-
xes Medium für unorthodoxe Inhalte, und eigentlich war er dies schon in
Engelbert Humperdincks melodramatischer Märchen-Oper „Königskin-
der“, in der eine Gänsemagd wegen des Hochmuts nicht nur der Ratsher-
ren, sondern auch des gesamten Volkes nicht Königin werden kann, ob-
wohl sich der Königssohn in sie verliebt hat. Genau genommen hatte aber
bereits der Chor der griechischen Tragödie eine außerordentliche Funk-
tion, die vor allem ethische, sozialkritische und somit politische Inhalte
vermittelte; durch die Wucht seines dithyrambischen, wohl halb gespro-
chenen und halb gesungenen Rezitierens bzw. seines musikalisierten Spre-
chens griff er nicht selten gleichsam als „deus ex machina“ in die Handlung
ein, entwirrte die Handlungsstränge, sprach Recht und sorgte für die mo-
ralische Katharsis schuldbeladener Personen.
Wir wollen nun die hier vor allem thematisierte Zwischenkriegszeit
betrachten, müssen zunächst aber kurz in das Jahr 1912 blicken. Zwei Mo-
nate, bevor Arnold Schönberg seinen „Pierrot lunaire“ fertigstellte, veröf-
fentlichte der Futurist Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944) am 11. Mai
1912 sein „Manifesto tecnico della letteratura futurista“, dem er am 11. Au-
gust noch ein „Supplemento al Manifesto [...]“ folgen ließ. Das Manifest
forderte u. a. (hier in deutscher Übersetzung):
73
Sprechen und „Sprechgesang“
als Ausdrucksform für sozialkritische Inhalte
in der Musik der Zwischenkriegszeit
Hartmut Krones
Univerza za glasbo in upodabljajočo umetnost na Dunaju
University of Music and Performing Arts Vienna
Seit Schönbergs „Pierrot lunaire“ war der „Sprechgesang“ ein unorthodo-
xes Medium für unorthodoxe Inhalte, und eigentlich war er dies schon in
Engelbert Humperdincks melodramatischer Märchen-Oper „Königskin-
der“, in der eine Gänsemagd wegen des Hochmuts nicht nur der Ratsher-
ren, sondern auch des gesamten Volkes nicht Königin werden kann, ob-
wohl sich der Königssohn in sie verliebt hat. Genau genommen hatte aber
bereits der Chor der griechischen Tragödie eine außerordentliche Funk-
tion, die vor allem ethische, sozialkritische und somit politische Inhalte
vermittelte; durch die Wucht seines dithyrambischen, wohl halb gespro-
chenen und halb gesungenen Rezitierens bzw. seines musikalisierten Spre-
chens griff er nicht selten gleichsam als „deus ex machina“ in die Handlung
ein, entwirrte die Handlungsstränge, sprach Recht und sorgte für die mo-
ralische Katharsis schuldbeladener Personen.
Wir wollen nun die hier vor allem thematisierte Zwischenkriegszeit
betrachten, müssen zunächst aber kurz in das Jahr 1912 blicken. Zwei Mo-
nate, bevor Arnold Schönberg seinen „Pierrot lunaire“ fertigstellte, veröf-
fentlichte der Futurist Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944) am 11. Mai
1912 sein „Manifesto tecnico della letteratura futurista“, dem er am 11. Au-
gust noch ein „Supplemento al Manifesto [...]“ folgen ließ. Das Manifest
forderte u. a. (hier in deutscher Übersetzung):
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