Page 78 - Weiss, Jernej, ur. 2018. Nova glasba v “novi” Evropi med obema svetovnima vojnama ?? New Music in the “New” Europe Between the Two World Wars. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 2
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nova glasba v »novi« evropi med obema svetovnima vojnama

In der Musik selbst führte die Verherrlichung von Geräusch und Lärm
in erster Linie zu einem vermehrten Einsatz der Sprechstimme sowie zu
ihrer Steigerung durch Schreie, Rufe, aber auch durch Flüstern und an-
dere unorthoxe, bislang zumindest in der Kunstmusik nicht eingesetzte
Lautgebungen. Der russisch-schweizerische Komponist Wladimir Vogel
(1896–1984) etwa verfaßte 1922 „Drei Sprechlieder nach August Stramm“,
die mitten in gesungene Worte hinein halbgesprochene Worte, ja einzel-
ne Silben mit im Fünfliniensystem durchkreuzten Notenhälsen notierte,
und dies vor allem bei extrem ausdrucksvollem Inhalt – z. B. in dem Lied
„Untreu“ bei dem Text „Die glutverbissnen Lippen eisen“, wo „Die glutver-“
noch gesungen, „-bissnen“ dann aber auf Tonhöhe deklamiert wird (Abbil-
dung 1).7 Vogel hat später selbst erklärt, daß nicht alle Texte, Wörter und
Aussagen Musik benötigen, insbesondere aber solche, die nichts Musisches
in sich bergen und vor allem einen logisch-realistischen Inhalt besitzen.

Abbildung 1: Wladimir Vogel, „Untreu“.
Ab der Mitte der 1920er Jahre kreierte Vogel dann die Gattung des

„Dramma oratorio“ mit seinen vielen Abstufungen zwischen Singen und
Sprechen sowie mit verschiedenen Koppelungen der beiden Ausdrucksfor-
men: 1926–1930 „Wagadus Untergang durch die Eitelkeit“, 1937–1939 „Thyl
Claes I“ sowie 1943–1945 noch „Thyl Claes II“. Hier (Abbildung 2) arbeiten
die „Sprechchöre“ mit drei (auf drei Linien notierten) Tonhöhen und exak-
ten Rhythmen; Extreme erscheinen über bzw. unter das Dreiliniensystem
gesetzt.8 Wichtig ist, daß die jeweiligen Inhalte der Worte adäquate Klang-
und Sprachfarben zugeteilt erhalten. In „Wagadus Untergang“ etwa wird
dem Sprechchor sowohl eine Art „kultischer Kriegstanz“ als auch eine An-
klage wegen Mordes überantwortet, in „Thyl Claes I“ der Bericht über die
Plünderung Roms, weiters das „Charakterbild des habgierigen und grausa-
men Kaisers“, die Tierquälereien des 15jährigen Infanten Philipp, die Schil-
derung der Folterung einer „Hexe“ oder der Bericht von einem qualvollen

7 Friedrich Geiger, Die Dramma-Oratorien von Wladimir Vogel, 1896–1984 (Ham-
burg: Von Bockel, 1998), S. 216f.

8 Geiger, Die Dramma-Oratorien von Wladimir Vogel, 1896–1984, S. 226.

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