Page 77 - Weiss, Jernej, ur. 2018. Nova glasba v “novi” Evropi med obema svetovnima vojnama ?? New Music in the “New” Europe Between the Two World Wars. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 2
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sprechen und „sprechgesang“ als ausdrucksform ...
1963) und Marcel Janco (1895–1984) lasen, sangen, schluchzten, flüsterten,
schrieen etc.:
„Das ist ein kontrapunktliches Rezitativ, in dem drei oder mehre-
re Stimmen gleichzeitig sprechen, singen, pfeifen oder dergleichen,
so zwar, daß ihre Begegnungen den elegischen, lustigen oder bizar-
ren Gehalt der Sache ausmachen. [...] Die Geräusche (ein minu-
tenlang gezogenes rrrrr, oder Polterstöße oder Sirenengeheul und
dergleichen) haben eine der Menschenstimme an Energie überlege-
ne Existenz. [...] Das menschliche Organ vertritt die Seele [...]. Die
Geräusche stellen den Hintergrund dar; das Unartikulierte, Fata-
le, Bestimmende. Das Gedicht will die Verschlungenheit des Men-
schen in den mechanistischen Prozeß verdeutlichen.“3
Und Hugo Ball, der erste Züricher Dadaist, beschrieb seine musi-
kalisierte Vortrags-Manier, die später vor allem auch der in Berlin le-
bende gebürtige Wiener Raoul Hausmann in extremer Form anwandte,
folgendermaßen:
„Da bemerkte ich, daß meine Stimme, der kein anderer Weg mehr
blieb, die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation annahm
[...] ich begann meine Vokalreihen rezitativartig im Kirchenstile zu
singen.“4
1919 – und wir sind jetzt in der Zwischenkriegszeit – erschien dann in
Berlin aus der Feder von Rolf Sievers das „Musikalische Manifest dada“,
das erstmals, vor allem angesichts der Vortragsweise(n) von Ball und Haus-
mann, ganz explizit auf die Musik rekurrierte und dabei das Idiom von
Marinettis „Futuristischem Manifest“5 auf diese Kunstrichtung ausweitete:
„Weltrevolution dada knallt knallend gelbe Rolle auch in den Far-
bentaumeltanz der Töne, Musik. Darum sind wir so feierlich wie
die alten Priester waren. [...] Aus Ofenröhren formt man den Ket-
tenschrei brunftkranker Steinbaukästen [...].“6
3 Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit (Luzern: J. Stocker, 1946), S. 79f. Vgl. Hans Rich-
ter, DADA – Kunst und Antikunst, 4. Auflage (Köln: DuMont, 1978), S. 28f.
4 Ball, Die Flucht aus der Zeit, S. 99f.
5 Zu Filippo Tommaso Marinettis „Fondazione e Manifesto del Futurismo“ von 1909
siehe u. a. Richard Rubinig, „Die Lebensverwirklichung des Futurismus“, in: Otto
Kolleritsch, Hrsg., „Der musikalische Futurismus“, Studien zur Wertungsforschung,
Band 8 (Graz: Universal Edition, 1976), S. 78–91.
6 Zit. nach Riha, Da Dada da war ist Dada da, S. 55f.
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1963) und Marcel Janco (1895–1984) lasen, sangen, schluchzten, flüsterten,
schrieen etc.:
„Das ist ein kontrapunktliches Rezitativ, in dem drei oder mehre-
re Stimmen gleichzeitig sprechen, singen, pfeifen oder dergleichen,
so zwar, daß ihre Begegnungen den elegischen, lustigen oder bizar-
ren Gehalt der Sache ausmachen. [...] Die Geräusche (ein minu-
tenlang gezogenes rrrrr, oder Polterstöße oder Sirenengeheul und
dergleichen) haben eine der Menschenstimme an Energie überlege-
ne Existenz. [...] Das menschliche Organ vertritt die Seele [...]. Die
Geräusche stellen den Hintergrund dar; das Unartikulierte, Fata-
le, Bestimmende. Das Gedicht will die Verschlungenheit des Men-
schen in den mechanistischen Prozeß verdeutlichen.“3
Und Hugo Ball, der erste Züricher Dadaist, beschrieb seine musi-
kalisierte Vortrags-Manier, die später vor allem auch der in Berlin le-
bende gebürtige Wiener Raoul Hausmann in extremer Form anwandte,
folgendermaßen:
„Da bemerkte ich, daß meine Stimme, der kein anderer Weg mehr
blieb, die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation annahm
[...] ich begann meine Vokalreihen rezitativartig im Kirchenstile zu
singen.“4
1919 – und wir sind jetzt in der Zwischenkriegszeit – erschien dann in
Berlin aus der Feder von Rolf Sievers das „Musikalische Manifest dada“,
das erstmals, vor allem angesichts der Vortragsweise(n) von Ball und Haus-
mann, ganz explizit auf die Musik rekurrierte und dabei das Idiom von
Marinettis „Futuristischem Manifest“5 auf diese Kunstrichtung ausweitete:
„Weltrevolution dada knallt knallend gelbe Rolle auch in den Far-
bentaumeltanz der Töne, Musik. Darum sind wir so feierlich wie
die alten Priester waren. [...] Aus Ofenröhren formt man den Ket-
tenschrei brunftkranker Steinbaukästen [...].“6
3 Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit (Luzern: J. Stocker, 1946), S. 79f. Vgl. Hans Rich-
ter, DADA – Kunst und Antikunst, 4. Auflage (Köln: DuMont, 1978), S. 28f.
4 Ball, Die Flucht aus der Zeit, S. 99f.
5 Zu Filippo Tommaso Marinettis „Fondazione e Manifesto del Futurismo“ von 1909
siehe u. a. Richard Rubinig, „Die Lebensverwirklichung des Futurismus“, in: Otto
Kolleritsch, Hrsg., „Der musikalische Futurismus“, Studien zur Wertungsforschung,
Band 8 (Graz: Universal Edition, 1976), S. 78–91.
6 Zit. nach Riha, Da Dada da war ist Dada da, S. 55f.
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