Page 76 - Weiss, Jernej, ur. 2018. Nova glasba v “novi” Evropi med obema svetovnima vojnama ?? New Music in the “New” Europe Between the Two World Wars. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 2
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nova glasba v »novi« evropi med obema svetovnima vojnama
„1. MAN MUSS DIE SYNTAX DADURCH ZERSTÖREN, DASS
MAN DIE SUBSTANTIVE AUFS GERATEWOHL ANORDNET,
SO WIE SIE ENTSTEHEN.
2. MAN MUSS DAS VERB IM INFINITIV GEBRAUCHEN, damit
es sich elastisch dem Substantiv anpaßt.“
Abschaffen mußte man nach Marinetti auch das Adjektiv, das Adverb
und die Zeichensetzung, und außerdem sollte „JEDES SUBSTANTIV SEIN
DOPPEL HABEN, dem es durch Analogie verbunden ist. Beispiel: Mann-Tor-
pedoboot, Frau-Meerbusen [...].“1 (In der offensichtlich von Marinetti be-
einflußten neuen deutschen Rechtschreibung würde man dieses Wort viel-
leicht wieder trennen: „Meer Busen“.)
Marinettis Mitstreiter Luigi Russolo (1885–1947) knüpfte dann direkt
an dessen Überlegungen an und faßte seine Gedanken 1913 in seinem Ma-
nifest „L’arte dei rumori“ (Die Geräuschkunst) zusammen, das 1916 in das
gleichnamige Buch Eingang fand; ich zitiere in deutscher Übersetzung:
„Es gibt in der Sprache einen Reichtum von Klängen, den kein
Orchester besitzt. Die Natur hat dieses herrliche Instrument, die
menschliche Sprache, mit abgestuften Geräuschen begabt, die in
der Musik kein Gegenstück finden. Die Dichter haben aus dieser
unversiegbaren Quelle der Geräusch-Klänge der Sprache [aber]
nicht die Ausdrucks- und Erregungselemente ziehen können, die
fähig gewesen wären, ihrer poetischen Sendung menschliche Reso-
nanz zu geben.“2
Es ging also einerseits um die Zerstörung der herkömmlichen Sprache
und deren Schreibweise, was bekanntlich nicht allgemein akzeptiert wur-
de, und andererseits um das Gewinnen neuer sprachlicher Ausdrucksbe-
zirke, wie es dann Russolos oder Giacomo Ballas geräuschhaften stimm-
lichen Imitationen von Maschinengeräuschen gelang, wie es aber wenige
Jahre später auch die Dadaisten vollzogen – etwa in der Gattung des „Poè-
me simultan“, das Richard Huelsenbeck (1892–1974), Tristan Tzara (1896–
1 Filippo Tommaso Marinetti, „Technisches Manifest der futuristischen Literatur“,
in: Umbro Apollonio, Der Futurismus. Manifeste und Dokumente einer künstleri-
schen Revolution (Köln: DuMont, 1972), S. 74f.
2 Diese Übersetzung des Russolo-Zitates findet sich in Raoul Hausmanns Aufsatz „Ei-
dophonetische Morgenröte“ aus den frühen 1960er Jahren. Zit. nach Karl Riha, Da
Dada da war ist Dada da (München-Wien: Hanser, 1980), S. 126.
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„1. MAN MUSS DIE SYNTAX DADURCH ZERSTÖREN, DASS
MAN DIE SUBSTANTIVE AUFS GERATEWOHL ANORDNET,
SO WIE SIE ENTSTEHEN.
2. MAN MUSS DAS VERB IM INFINITIV GEBRAUCHEN, damit
es sich elastisch dem Substantiv anpaßt.“
Abschaffen mußte man nach Marinetti auch das Adjektiv, das Adverb
und die Zeichensetzung, und außerdem sollte „JEDES SUBSTANTIV SEIN
DOPPEL HABEN, dem es durch Analogie verbunden ist. Beispiel: Mann-Tor-
pedoboot, Frau-Meerbusen [...].“1 (In der offensichtlich von Marinetti be-
einflußten neuen deutschen Rechtschreibung würde man dieses Wort viel-
leicht wieder trennen: „Meer Busen“.)
Marinettis Mitstreiter Luigi Russolo (1885–1947) knüpfte dann direkt
an dessen Überlegungen an und faßte seine Gedanken 1913 in seinem Ma-
nifest „L’arte dei rumori“ (Die Geräuschkunst) zusammen, das 1916 in das
gleichnamige Buch Eingang fand; ich zitiere in deutscher Übersetzung:
„Es gibt in der Sprache einen Reichtum von Klängen, den kein
Orchester besitzt. Die Natur hat dieses herrliche Instrument, die
menschliche Sprache, mit abgestuften Geräuschen begabt, die in
der Musik kein Gegenstück finden. Die Dichter haben aus dieser
unversiegbaren Quelle der Geräusch-Klänge der Sprache [aber]
nicht die Ausdrucks- und Erregungselemente ziehen können, die
fähig gewesen wären, ihrer poetischen Sendung menschliche Reso-
nanz zu geben.“2
Es ging also einerseits um die Zerstörung der herkömmlichen Sprache
und deren Schreibweise, was bekanntlich nicht allgemein akzeptiert wur-
de, und andererseits um das Gewinnen neuer sprachlicher Ausdrucksbe-
zirke, wie es dann Russolos oder Giacomo Ballas geräuschhaften stimm-
lichen Imitationen von Maschinengeräuschen gelang, wie es aber wenige
Jahre später auch die Dadaisten vollzogen – etwa in der Gattung des „Poè-
me simultan“, das Richard Huelsenbeck (1892–1974), Tristan Tzara (1896–
1 Filippo Tommaso Marinetti, „Technisches Manifest der futuristischen Literatur“,
in: Umbro Apollonio, Der Futurismus. Manifeste und Dokumente einer künstleri-
schen Revolution (Köln: DuMont, 1972), S. 74f.
2 Diese Übersetzung des Russolo-Zitates findet sich in Raoul Hausmanns Aufsatz „Ei-
dophonetische Morgenröte“ aus den frühen 1960er Jahren. Zit. nach Karl Riha, Da
Dada da war ist Dada da (München-Wien: Hanser, 1980), S. 126.
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