Page 91 - Weiss, Jernej, ur. 2018. Nova glasba v “novi” Evropi med obema svetovnima vojnama ?? New Music in the “New” Europe Between the Two World Wars. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 2
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oi: https://doi.org/10.26493/978-961-7023-72-5.89-105

Ukrainische Komponistenschule
in der Zwischenkriegsperiode
des XX Jahrhunderts:
Zwischen Modernismus
und sozialistischem Realismus

Luba Kijanovska
Univerza v Lvovu
University of Lviv

Ukrainische professionelle Musik entwickelte sich in ziemlich komplizier-
ten historischen und politischen Umständen, was in erster Reihe damit
verbunden war, daß ethnische Gruppen von Ukrainern binnen mehrerer
Jahrhunderte in verschiedenen Ländern und Staaten wohnten. Deswegen
dient Kultur als ein unerlässlicher Teil des nationalen Identitätsbewusst-
seins, insofern benutzten Ukrainer – als staatsloses Volk – die Folklore und
professionelle Kunst für Bewahrung und Unterstützung nationale Tradi-
tionen. Deswegen – ähnlich wie in anderen staatslosen Ethnien1 - bevor-
zugten ukrainischen Komponisten des XIX Jahrhunderts solche demokra-
tischen Gattungen, wie Chor- oder Sololieder, wie auch die Oper, die als
Manifestation der Nationalgeschichte und patriotischen Gefühlen diente.
Als Kanon des Stils wurde die Romantik mit ihrer Poetisierung der Volks-
kunst angesehen.

Im XX. Jahrhundert, nach dem Ersten Weltkrieg und nach der Nie-
derlage der Ukraine im Kampf für die Unabhängigkeit ihres Staates, in der
Zwischenkriegsperiode verteilten sich die Ukrainer in folgender Weise: ei-
nen größten Teil, etwa 30 Mio. Einwohner des östlichen Teils, also, der sog.

1 Das besondere Interesse zur nationalen Kunst als wirksames Mittel des nationalen
Bewusstseins merkt man auch in Slowenien, worüber Primož Kuret in seinem Ar-
tikel „Slowenien und seine Musikkultur“ schreibt: „Mit der Zeitschrift Novi akordi
(1902–1913) erreichte auch slowenische Musik einen Aufschwung, wo konnten sich
schon einige slowenische Komponisten profilieren“. Er erwähnte auch Fran Gerbicz,
der aus Lemberg aus patriotischen Gründe nach Slowenien zurückkehrte.

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